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Liebe Leser:innen,


in den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an Biografien und an der Auseinandersetzung mit biografischen Erfahrungen stark gewachsen. Biografien reflektieren gesellschaftliche Veränderungen wie Migration, Gender­fragen oder soziale Gerechtigkeit, sodass individuelle Erfahrungen und die daraus resultierenden Lebens­erzählungen zu zentralen Bezugspunkten in der Wissenschaft und Forschung geworden sind. Gleichzeitig zeigt sich in der Pädagogik ein zunehmendes Interesse an den Beweggründen, die Menschen dazu veranlassen, die Lehrtätigkeit als Beruf zu wählen. Von besonderer Rele­vanz ist dabei, welche positiven Erlebnisse in der Rekon­struk­tion der eigenen Lebens­geschichte als prägend für diese Entscheidung wahrgenommen werden, sich dem Unterrichten und Erziehen anderer zu widmen – und gleichzeitig auch, welche negativen Erfah­rungen möglicherweise die Motivation wecken, es selbst besser machen zu wollen. Diese Entwicklungen tragen auch in der Musikpädagogik seit einigen Jahren zu einem erneut aufkommenden Interesse an Biografieforschung bei. Parallel dazu hat der musikpädagogische Diskurs auch praktische Ansätze der Biografiearbeit aufge­griffen und fachspezifisch weiterentwickelt. Die in dieser Ausgabe versammelten Themenbeiträge beschäftigen sich mit der Frage, wie die Auseinandersetzung mit der eigenen musi­ka­lischen und schulischen Bildungsbiografie didak­tisch sinnvoll in musikpädagogische Studiengänge integriert und methodisch fundiert erforscht werden kann, um damit letztlich zu einem selbstreflexiven Professionsverständnis beizutragen.
Der einleitende Beitrag von Sabine Schneider-Binkl setzt sich aus musikpädagogischer Perspektive mit den Konstrukten der Biografie, der Identitätsentwicklung und des Selbstkonzepts auseinander, zeigt deren Überschneidungen auf und plädiert für einen integrierenden Forschungsansatz.
Lukas Bugiel klärt anhand eines Gedankenspiels die Voraussetzungen und möglichen Zusammenhänge zwischen den Begriffen der Bildungsbiografie, der Identität und der musikalischen Erfahrung. Er argumentiert, dass auto­biografische Erzählungen notwendige Medien unserer Identität im Sinne eines personalen Selbstverständnisses sind, die musikalische Erfahrungen integrieren und selbstbezogenen Wünschen einen konkreten und intersubjektiv kommunizierbaren Ausdruck verleihen.
Michael Göllner und Natalia Ardila-Mantilla zeigen anhand von Einblicken in das Projekt SpurTe, welche Möglichkeiten und Herausforderungen die biografie­gestützte Erforschung musikalischer Teilhabeprozesse für die Musikschularbeit bietet. Dabei reflektieren sie die Bedeutung des Capability Approach als sensibilisierendes Konzept, das sich für die Auswertung als besonders ergiebig erweist.
Oliver Krämer und Eva-Maria Tralle stellen in ihrem Beitrag mit dem Song of My Life und dem Biographon zwei Seminarkonzepte als Beispiele dafür vor, wie das kreative Arbeiten mit klingenden Biografien das musikpädago­gische Selbstverständnis fördern kann. In beiden Konzepten erhalten Studierende die Gelegenheit, ihre eigenen Biografien klanglich zu gestalten. Auf der Grundlage der entstandenen ästhetischen Produkte erfolgt eine vertiefte Reflexion der eigenen musikalischen Identität, die nicht nur das Studium, sondern auch die zukünftige berufliche Praxis in den Blick nimmt.
Ebenfalls mit klingenden Biografien arbeitet Anna Houmann in ihren Einführungsseminaren an der Malmö Academy of Music. Detailliert beschreibt sie die Projektphasen und Ziele der Seminararbeit am Soundtrack of My Life aus den Perspektiven der Seminarleiterin, der Teilnehmenden und der Forschung.
Nazfar Hadji und Raimund Vogels präsentieren das Seminar Iranian Music Biographies als Beispiel dafür, wie Bio­grafieforschung hochschuldidaktisch eingesetzt werden kann, um kulturelle und soziale Dimensionen des Musizierens zu verstehen. Sie verdeutlichen, wie der Austausch mit Musiker:innen aus dem Iran über deren Biografien Studie­renden in Deutschland dabei helfen kann, ihr eigenes Musik­verständnis zu erweitern und sie auf eine multikulturelle Gesellschaft vorzubereiten.
Johannes Wagner präsentiert abschließend eine quali­tative Studie zu musikalischen Sozialisationsprozessen in Knabenchören, die auf biografisch-narra­tiven Interviews mit ehemaligen Chor­mitgliedern basiert und die Auswirkungen der Chormitgliedschaft auf die persönlichen Entwicklungen in den Blick nimmt. Die Erzählungen verdeutlichen, wie das strukturierte, leistungs­orientierte Umfeld des Chores spezifische soziale Dynamiken fördert und inter­ne Hierarchie­strukturen konstituiert.
Die beiden freien Beiträge in dieser Ausgabe befassen sich zum einen mit der Lesson Study als einer ursprüng­lich in Japan situierten Methode, um Unterricht ko-konstruktiv weiterzuentwickeln (Beitrag von Ruven Wegner), zum anderen mit dem Konzept eines sprachbewussten Musikunterrichts (Beitrag von Valerie Krupp und Isabel Winter), das die Bedeutung des sprachlichen Vorbildhandelns und dementsprechend die Notwendigkeit einer verstärkt sprachsensiblen Ausbildung angehender Musiklehrkräfte betont.
Der Magazinteil dieser Ausgabe enthält neben einem Bericht von Johanna Schomaker über die Jahrestagung des AMPF und einer Buchrezension von Christian Cöster auch eine Replik von Katharina Hottmann auf den Beitrag von Bernd Clausen und Thorsten Wagner in der vergangenen Heftausgabe.
Unser besonderer Dank gilt Eva-Maria Tralle für die engagierte Mitherausgabe des Thementeils dieser Ausgabe.

 

Rebekka Hüttmann, Oliver Krämer, Eva-Maria Tralle
(als Gastmitherausgeberin dieses Heftes) und Annette Ziegenmeyer

DMP 104: Biografie

Artikelnummer: DMP-Heft-104
13,40 €Preis
inkl. MwSt. |
  • Biografie

    • Sabine Schneider-Binkl
      Identitätsentwicklung, Selbstkonzepte und Biografien aus musikpädagogischen Perspektiven
      Theoretische Grundlagen, Forschungseinblicke und Überlegungen zum Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen
    • Lukas Bugiel
      Biografie – Identität – musikalische Erfahrung
      Überlegungen zu musikpädagogisch relevanten Zusammenhängen
    • Natalia Ardila-Mantilla & Michael Göllner
      Spuren musikkultureller Teilhabe in der Lebensspanne
      Theoretische und methodologische Reflexionen über ein exploratives Forschungsprojekt zu musikalischen Biografien 
    • Oliver Krämer & Eva-Maria Tralle
      Klingende Lebensläufe gestalten und reflektieren
      Biografiearbeit in musikpädagogischen Seminarkontexten
    • Anna Houmann
      The Soundtrack of My Life
      Using Story in Higher Music Education
    • Nazfar Hadji & Raimund Vogels
      Biografisches Arbeiten mit Musiker:innen aus dem Iran
      Perspektivenerweiterung als Chance musikpädagogischer Ausbildung
    • Johannes Wagner
      Kindheit und Jugend im Knabenchor
      Welche Erfahrungen und Erlebnisse prägen die Biografien ehemaliger Knabenchorsänger?

    Freie Beiträge

    • Ruven Wegner
      Schulunterricht gemeinsam weiterentwickeln
      Lesson Study im Fach Musik

    Freie Beiträge (Online)

    • Valerie Krupp & Isabel Winter
      Sprachbewusstheit angehender Musiklehrkräfte als Bestandteil von Lehrprofessionalität
      Reflexionen auf der Basis der Durchführung eines Didaktik-Seminars im Fach Musik
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