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Liebe Leserinnen und Leser,

 

der etwas altertümliche Titel für das Thema dieser Ausgabe unserer Zeitschrift ist der Überschrift geschuldet, die Jürgen Oberschmidt seinem Beitrag gegeben hat. Er schickte mir den Text vor ungefähr einem Jahr, und ich wählte ihn als Basistext für das hier vorliegende Themenheft. Es war nicht schwierig, Autorinnen und Autoren für das Heft zu finden, und nun liegt eine Ausgabe der „Diskussion Musikpädagogik“ vor, die dem ursprünglichen Sinn des Begriffs der Werkbetrachtung eine veränderte und erweiterte Bedeutung gibt bzw. ihn kritisiert.
 Als der Begriff und der mit ihm gemeinte pädagogische Bereich des Musikunterrichts aufkam – etwa mit der Neukonstitution des Schulfaches Musik nach dem zweiten Weltkrieg –, waren mit ihnen die Beschäftigung mit der Formenlehre, (soweit möglich) der Analyse, der Gattungs- und Epochenlehre, der Komponistenbiographik und der allgemeinen Kunstgeschichte gemeint. In gewisser Weise entsprach dieser Unterrichtsbereich damals dem, was heute noch – überholt und zurückgeblieben – die Musikwissenschaft unter Hermeneutik versteht, und was noch in vielen Schulbüchern für das Fach Musik zu lesen ist. Zusammenfassend kann man sagen: Werkbetrachtung widmete sich der Wissensbildung, so wie das im Allgemeinen auch die Programmhefte und die Einführungsveranstaltungen im Konzertleben betreiben.
Inzwischen – anfangend mit Karl Heinrich Ehrenforths Schrift „Verstehen und Auslegen“ (Frankfurt 1971) – ist neben die Wissensbildung so etwas wie eine „Menschen- und Lebensbildung“ gerückt, oder hat jene überholt. Kurz gesagt ist damit der unabschließbare Dialogcharakter (angeregt durch Gadamers neue Hermeneutik), die Wahrnehmungslehre zwischen „Ich- und Es-Wahrnehmung“ (Gernot Böhme) und die Betonung der Individualität des Erlebens und Verstehens ins Zentrum der ursprünglichen bloßen Betrachtung gelangt. (Dem Begriff der „didaktischen Interpretation“ begegne ich mittlerweile nicht ohne Skepsis, weil von Didaktisierung im Sinne eines Lehrsystems nicht die Rede sein sollte.
In zweierlei Hinsicht – das versucht das vorliegende Heft anzudeuten – ist aus der betrachtenden Haltung gegenüber der Musik eher ein ‚Leben mit Musik’ oder die ‚Begegnung mit Musik’ geworden. Die Redewendung vom Ich, das am Du erfahren wird und umgekehrt, die Christine Löbbert als Wunschziel der Beschäftigung mit Musik in Martin Bubers Anthropologie geliehen hat, betrifft einerseits die Rücksicht auf die Verschiedenheit der jungen oder älteren Menschen und betrifft (demzufolge) auch die Vielfalt der Begegnungsarten, die man betreiben und die der Musikunterricht anregen kann.
So bietet das vorliegende Heft einen bunten Strauß von Musikbeschäftigungen an: Jürgen Oberschmidt bietet eine historisch-kritische Auseinandersetzung, Karl Heinrich Ehrenforth den Ansatz des Verstehens bei der philosophischen Hermeneutik (mit einem praktischen Beispiel). Michael Ahlers gibt einen umfangreichen, inhaltlich begründeten Literaturbericht zum verstehenden Umgang mit Popmusik; Christoph Khittl erörtert Überlegungen zur Werktreue mit Hilfe von Roland Barthe`s Thesen. Christine Löbbert berichtet von der Beschäftigung hörgeschädigter kleiner Schülerinnen und Schülern in der Auseinandersetzung mit einem gewichtigen Werk der großen Kunst. Mein eigener Versuch, mit erwachsenen Laien eine Schubert-Klaviersonate zu er­obern, kann als Pendant dazu verstanden werden. Mit dem Beitrag von Hubert Moßburger enden die Versuche der Werkbetrachtung mit einer äußerst genauen musikwissenschaftlich/musiktheoretischen Interpretation, die den Lehrenden zu detaillierter Unterrichtsgestaltung anregen kann.
Wir wünschen Interesse und Vergnügen an den so verschiedenen Vorstellungen von Werkbetrachtung.

 

Christoph Richter

DMP 71: Werkbetrachtung im Musikunterricht

Artikelnummer: DMP-Heft-71
13,40 €Preis
inkl. MwSt. |
  • Das Wort zum dritten Quartal

    • Christoph Richter
      Was ist eigentlich „ästhetische Erfahrung“?
      Das Wort zum dritten Quartal

    Werkbetrachtung im Musikunterricht

    • Jürgen Oberschmidt
      Werkbetrachtung im Musikunterricht
    • Karl Heinrich Ehrenforth
      Anmerkungen zur „Wut des Verstehens“ Schleiermachers und der „Rätselhaftigkeit der Musik“ nach Adorno
    • Christoph Khittl
      ‚Werktreue’ und Treue zum Werk?
      Oder wie die Musikdidaktik in musikalische Kunstwerke eingreift
    • Michael Ahlers
      Pop-Musik-Analysen
      Theorien, Techniken, Methoden
    • Christine Löbbert
      Beziehungsorientierte Werkbetrachtung
      Über die subjektive Erfahrung zur objektiven Betrachtung
    • Christoph Richter
      Betrachtung und Interpretation von Musik für erwachsene Laien und Musikliebhaber
      versucht am Beispiel des letzten Satzes (Rondo, Allegretto) der Klaviersonate in A, D 959, von Franz Schubert (1828)
    • Hubert Moßburger
      Was, wie und warum „Der Dichter spricht“
      Zu Robert Schumanns Poesie der letzten Kinderszene

    Freie Beiträge

    • Andreas Kissenbeck
      Informelles Lernen
      Ein Begriff, der Ursachen effektiven Musiklernens verschleiert?
    • Olivier Blanchard & Thomas Hofer & Jürg Huber & Jürg Zurmühle
      Wunsch nach vielfältiger Eindeutigkeit
      Bewegung in der Schweizer Musikdidaktik. Zur Gründung des Verbandes Fachdidaktik Musik Schweiz
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