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Liebe Leserinnen und Leser,

 

im Heft 41 (zum ersten Quartal des Jahres 2009) hatten Vertreter der Systematischen Musikwissenschaft ihre Aufgaben- und Forschungsbereiche, aber auch ihre Wünsche, Sorgen und Forderungen erörtert. Die Beiträge des Heftes waren auch – mehr oder weniger – auf die Bedeutung der „systematischen“ Teilbereiche einer Musikwissenschaft (also der psychologischen, soziologischen, anthropologischen, medialen Fragestellungen) eingegangen. Sie hatten Themen und Forschungsprojekte beschrieben, die auch Schülerinnen und Schüler und Musiklehrer interessieren könnten oder sollen; sogar solche, an denen sie beteiligt werden können.
In der vorliegenden Ausgabe äußern sich nunmehr Kolleginnen und Kollegen der Historischen Musikwissenschaft bzw. der Musikgeschichte zu ihren Aufgabenfeldern, Forschungsinteressen, Methoden und deren Darstellung. 
Dabei fällt mir auf, dass – der Tendenz nach – die Historische Musikwissenschaft mehr gegenstandsorientiert, die Systematische Musikwissenschaft mehr „menschenorientiert“ angelegt ist, argumentiert und ihre Interessen vertritt; und zwar unabhängig von den Fragen und Gegenständen, mit denen sie sich auseinandersetzen.
So unverzichtbar die historische, die philologische Aufklärung und Deutung unbestreitbar ist, so sehr wünschte ein Musikpädagoge sich doch noch einen weiteren Schritt, nämlich den auf jene Menschen zu, mit denen die Musikwissenschaft es zu tun hat – seien es Schülerinnen und Schüler, seien es Lehrer, seien es ausübende „Künstler“, seien es musikinteressierte Laien. Nach meiner Auffassung gehört zu einer historisch-philologisch verfahrenden wissenschaftlichen Tätigkeit die „applicatio“ (die Anwendung, auf welche Weise auch immer).
Einleuchtend formuliert dies Hans-Georg Gadamer im Kapitel „Platos dialektische Ethik – beim Wort genommen“1: „Wie lässt sich ein griechischer Text, der nach dem Guten im Leben fragt (...) von den Grunderfahrungen unserer eigenen Lebenswelt aus neu zum Sprechen bringen?“ (nicht „zur Sprache“! Zusatz CR) Gadamer versucht das, indem er die griechischen Begriffe (neu) „zum Sprechen bringt“ (angeregt u. a. von Heideggers Vorlesungen über „Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles“2 ). 
Auf die Musik und ihre Erforschung übertragen, könnten z. B. ältere Musik oder Musik aus anderen Kulturen „neu zum Sprechen“ (nicht nur zur Sprache, s. o.) gebracht werden, und zwar auf zwei Weisen, die Beziehungen zwischen der Musik und den Menschen zu stiften oder anzuregen vermögen (einmal abgesehen vom praktischen Musizieren, das sich heute besonders um neue „Sprechweisen“ bemüht). Die eine Weise besteht darin, eine Musik in das Gemälde ihres seelischen, gesellschaftlichen, religiösen, ökonomischen, anthropologischen u. a. Kontexts einzutragen (und nicht, wie üblich, umgekehrt), um auf diese Weise den „Bruder“ , die „Schwester“, den „Genossen“ (im Sinne Jauß’), die „Herrschenden“, die Musizierenden“ oder andere in ihrem Handeln und Lebensweisen zu erkennen und zu verstehen. Die andere Weise besteht darin, den heutigen Menschen (die Schülerin, den Studierenden, die Hörenden usw.) in dieses Gemälde einzutragen. In beiden Fällen geht es um Beziehungen, die (hermeneutisches) Verstehen anregen, ermöglichen und lebendig machen.
Nüchterner formuliert: Zu der gewissenhaft und umsichtig erforschten Aufklärung der Musik gehört – was die Adressaten einer Musikhochschule oder verwandter Ausbildungsinstitutionen angeht – eine Fundierung durch oder eine Grenzüberschreitung in anthropologische, soziologische, psychologische und kulturgeschichtliche zeitgenössische Fragestellungen bzw. Bereiche. Damit ist gesagt, dass für die Ausbildung für musikbezogene Berufe einerseits die Zusammenarbeit Historischer und Systematischer Musikwissenschaft und andererseits die Zusammenarbeit beider mit der Musikpädagogik Bedingung ist. Diese Forderung verlangt jedoch nicht Abstriche an der autonomen oder selbstbestimmten wissenschaftlichen Aufklärung und Forschung. 
So argumentiert, bringt die Musikwissenschaft (sozusagen „in beiderlei Gestalt“) Dienstleistung in die musikbezogene Berufsausbildung. Ich meine, das nimmt der Musikwissenschaft nicht ihre Würde, sondern steigert sie. Freilich bedarf es gleichsam noch der „harten“ Forschung eines Darstellungsvermögens, welches die oben genannten Beziehungen zwischen Gegenständen und Menschen möglich macht.
Nur in wenigen Ausnahmen gibt es an berufsbildenden Institutionen für Musikberufe eine solche umfassende Musikwissenschaft oder wenigstens eine gedankliche und inhaltliche Zusammenarbeit. Sie beschränkt sich auf gelegentliche Projekte und lehrt zu wenig die wissenschaftliche Mitarbeit der Studierenden in dem angedeuteten umfassenden Sinne. Als rühmenswertes Beispiel fällt mir nur die Universität in Oldenburg ein. Sonst scheint eher das gegenteilige Modell Karriere zu machen: In einer Zeit, in der universitäre Institute der Musikwissenschaften (bedauerlicherweise) aufgelöst werden, versucht die Musikwissenschaft, deren Wissenschaftsverständnis in die Musikhochschulen zu verlagern. Mir scheint fraglich, ob sie ihren weitergehenden Auftrag dort erfüllt.

 

Christoph Richter

DMP 43: Musikgeschichte in der Musiklehrerausbildung

Artikelnummer: DMP-Heft-43
13,40 €Preis
inkl. MwSt. |
  • Das Wort zum dritten Quartal

    • Christoph Richter
      Ein Rückblick

    Musikgeschichte in der Musiklehrerausbildung

    • Joachim Kremer
      Von der Geschichtlichkeit der Musik
      oder: Bildungsanspruch und Musikunterricht
    • Wolfgang Martin Stroh
      Eine kleine politische Musikgeschichte
      oder Anlass zur Bedeutungskonstruktion
    • Susanne Fontaine
      Wider die Geschichtsvergessenheit
      Musikgeschichte und Musikwissenschaft im Rahmen der Ausbildung von Musikern und Musikpädagogen
    • Wilfried Gruhn
      Kunst und Politik
      Leo Kestenbergs Wirken in Berlin, Prag und Tel Aviv

    Freie Beiträge

    • Patrick Ehrich
      Wovon wir reden, wenn wir von Pop reden
      Oder: Von der Unterrichtbarkeit Populärer Musik
    • Marina Tzouli
      Griechische Abzählreime
      Anmerkungen zu den Lachnismata
    • Christoph Khittl
      „Die ewige Wiederkehr“?
      oder: Wie die Musikpädagogik ihre Geschichtlichkeit (nicht) reflektiert am Beispiel des „Aufbauenden Musikunterrichts“

    Serie: Musikpädagogik in den USA

    • Carlos R. Abril
      School Music Education in the United States
      Beliefs, Conditions, and Implications
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