Liebe Leserinnen und Leser,
die Anregung für dieses Thema erhielt ich durch die vor kurzem erschienenen Dissertationen: Peter Hametner, „Musik als Anstiftung. Theorie und Praxis einer systemisch-konstruktivistischen Musikpädagogik“ und Henning Scharf, „Konstruktivistisches Denken für musikpädagogisches Handeln. Musikpädagogische Perspektiven vor dem Hintergrund der Postmoderne- und der Konstruktivismusdiskussion“ (s. Rezension S. 55 ).
Die verschiedenen Spielarten des Konstruktivismus scheinen zurzeit die Erziehungswissenschaft als eine Art über- und unterirdischen Flusses und, in einigen Nebenflüssen, auch die Musikpädagogik in Bewegung zu setzen. Für mich waren diese Einflüsse zunächst noch Neuland. So habe ich mich seit einem Jahr so weit in die reichhaltige und schwergewichtige Literatur eingelesen, dass ich einige Fragen an die Thesen des Konstruktivismus stellen kann.1. Konstruktivismus ist, so heißt es, eine Erkenntnistheorie. Sie sagt uns etwas darüber, wie wir uns die Welt erobern, erschaffen und formulieren. Wenn Konstruktivismus also eine Weise des Seins ist (mit dem sich spätestens seit Descartes und über Kant bis heute die Philosophie unter verschiedenen Namen auseinandergesetzt hat), dann stehen wir – zumal für den Lehrerberuf und den Unterricht – wieder einmal vor der Schwierigkeit, vom „Sein“ („so ist es“) in das „Sollen“ („so müssen wir handeln“) zu springen, von ontologischen Setzungen zu pädagogischen Anweisungen. Das hat man schon manchem musikpädagogischen Konzept vorgeworfen. Gilt das auch für ein konstruktivistisch begründetes musikpäda-gogisches Konzept? Hat die Pädagogik, weil sie das nicht bedacht hat, bisher in Sünde gelebt? Steht Pädagogik als eine Wissenschaft und eine Lebenspraxis, die ja immer den Charakter von „Verordnung“ annimmt, etwa prinzipiell in Gegensatz zu einem Leben, das sich selbst und die Welt konstruierend erschafft?
2. Ich habe gelernt, dass Konstruktivismus Gegenstand und Methode der Erkenntnistheorie, der Lerntheorie und der Soziologie ist. Folgen daraus, je nach Anknüpfungspunkt, verschiedene musikpädagogische Konzepte? Oder ist konstruktivistisches Denken und Handeln vielleicht etwas, das vielen möglichen Anwendungskonzepten ein allgemein geltendes Grundmuster einwebt?
3. Ist eine konstruktivistische Musikpädagogik eventuell „nur“ ein neuer Name oder ein neues Gewand, das entweder – in weniger guten Fällen – lediglich rechtfertigt, was schon immer im Unterricht gemacht wird (Singen, Tanzen, Erfinden, Basteln, kritische Recherche, Projektarbeit) oder – im besseren Fall – an frühere Konzepte erinnert, an sie weiterentwickelnd anschließt, sie wirkungsvoll zuspitzt ? Kurz gesagt: Bestätigt das neue Gewand lediglich Selbstverständliches oder enthält es neuen pädagogischen Zündstoff, den das pädagogische Denken und Handeln und wir allerdings dringend gebrauchen können?
4. Wenn ich an die philosophischen, soziologischen, psychologischen und anderen Anleihen denke, welche die Musikpädagogik seit fast 50 Jahren aufgenommen hat – von Plato, Adorno, Hartmann, Mersmann/Kurth über Heidegger, Gadamer Dewey. . . – sie alle würden in den lockeren Refrain der bei Kersten Reich angemahnten Trinität von „Konstruktion, Dekonstruktion, Rekonstruktion“ einstimmen (Reich 2005, S. 118 – 145). Deshalb gefällt mir das Grundmuster „Konstruktivismus“ als Fundament für das Erkennen, Erleben, Handeln, Lernen und Lehren gut. Und sosehr es einerseits eine Wiedererweckungsbewegung zu sein scheint, so wichtig ist es, aus seiner Selbstverständlichkeit endlich praktische Konsequenzen für das Handeln von Menschen zu ziehen, z. B. für Politiker, Bildungspolitiker und Bildungswissenschaftler, die gerade dabei sind, ein kontrastierendes Grundmuster durchzusetzen, ein Erziehungssystem, das mit Standards, Kompetenznötigungen und gleichmachenden Kontrollen ein wirkungsvolles systemisch-konstruktivistisches Handeln unterläuft.
5. In seinem weitgespannten Anspruch ist eine konstruktivistische Pädagogik eher eine allgemeine Haltung als eine Wissenschaft, an der Lernen und Lehren sich orientieren sollten; wie ich meine, eine besonders wichtige, kreative, auf Fantasie, Irrtum und nicht nachlassendem Fragen beruhende Haltung – gegenüber der „Welt der Dinge“ (Gumbrecht), gegenüber den anderen und nicht zuletzt gegenüber sich selbst. Als eine solche Haltung sollte sie gelehrt und gelernt werden.
Damit das gelingen kann, ist vor zwei Eng-Führungen (im Wortsinn!) zu warnen: vor einer „wissenschaftlichen“ oder gar dogmatischen Festlegung des Begriffs wie auch der beteiligten Menschen (Schüler, Lehrer, Bildungsobrigkeit); und vor einer „Leipziger-Allerlei“-Zubereitung konstruktivistischen Handelns in der päda-gogischen Küche, das heißt: in (die Menschen und die Sachen) festlegenden Methodenspielen. Löst man nämlich die genannte Haltung in ein Arsenal von Methoden auf, so wendet sich Pädagogik gerade gegen das, was sie erreichen will: Sie beginnt wieder vorzuschreiben, zu lenken, Ziele anzuvisieren und zu kontrollieren.
Wie bei jeder Erziehungskonzeption bleibt – beim gegenwärtigen Stand des Selbstverständnisses von Hochschulen, die sich (auch) der Lehrerausbildung widmen – die Frage unbeantwortet, wie zukünftige Lehrer darauf vorbereitet werden können, jene „Haltung“ zu gewinnen, weiter zu geben, zu lehren und lebendig zu machen.
Christoph Richter
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