Liebe Leserinnen und Leser,
bei einem Planungsgespräch 2006 in Berlin für den Jahrgang 2008 unserer Zeitschrift wurde vorgeschlagen, eines der Hefte der Auseinandersetzung mit nur einem Musikstück zu widmen. Diese Auseinandersetzung sollte in verschiedene Richtung gehen. Sie sollte verschiedene Aspekte der Musik aufgreifen, verschiedene methodische Zugriffe erproben und verschiedene Möglichkeiten der „Anwendungen“ für den Musikunterricht anbieten.
Nach längerem Hin und Her zwischen Dresden und Berlin fiel die Wahl auf die Einleitung zu Joseph Haydns Schöpfung: „Die Vorstellung des Chaos“ (Ob Haydn sich der Doppelbedeutung dieser Überschrift wohl bewusst war?). Diese Wahl schien uns sowohl eine Beschäftigung mit den Bedingungen und der Tradition einer „geordneten“ Musik in der Aufklärungszeit als auch eine Auseinandersetzung mit dem Begriff des „Chaos“ zu eröffnen.
Clemens Kühn stellte eine analytisch-musikwissenschaftliche Interpretation mit der Komposition zur Verfügung, die nun als Basisartikel das Heftthema einleitet. Wir verschickten diesen Beitrag an potentielle Autoren und Autorinnen mit der Bitte, sich mit einem speziellen Thema an dem Projekt zu beteiligen. Auf diese Weise entstand ein Paket von sechs Beiträgen – zur allgemeinen didaktischen Erörterung, zur Beziehung von Chaos und Rockmusik, zum zeitgeschichtlichen Kontext der Haydn´schen „Schöpfung“, zu Möglichkeiten, die „Chaos-Musik“ in verschiedenen Altersstufen, Schularten und Fragestellungen zu unterrichten. Wir hoffen, mit diesem Paket einerseits einen Beitrag zum Nachdenken über das Verhältnis zwischen einer Komposition und musikdidaktischen Ziel- und Kompetenzüberlegungen beizusteuern, und andererseits Anregungen für die Praxis des Musikunterrichts anzubieten.
Eine Auseinandersetzung über musikpädagogische Grundfragen haben wir mit der Veröffentlichung des Beitrags von Pavel Rojko (in der redaktionellen Fassung von Franz Niermann in Heft 37) ausgelöst. Die in diesem Heft veröffentlichte Leserzuschrift der drei Musikpädagogen von der Kölner Musikhochschule zeigen, dass der Kollege aus Slowenien offenbar Hand an das derzeitige Selbstverständnis vom schulischen Musikunterricht gelegt hat, indem er die pädagogische Wirkung bestimmter Weisen des schulpraktischen Musizierens infrage stellt, jedenfalls für Konzepte und Ziele, im Musikunterricht zur Beschäftigung mit der so genannten Kunstmusik hinzuführen. Die Aufregung, die Franz Niermann in seiner Entgegnung zu beschwichtigen versucht, ist verständlich, wenn man die Meinung teilt, das praktische Musizieren im Klassenunterricht sei heute weder infrage zu stellen, noch müsse sie immer aufs Neue begründet werden. Diese Meinung und der Vorwurf gegenüber dem Schriftleiter, mit dieser Veröffentlichung sei die propagierte Wissenschaftlichkeit der Zeitschrift unterboten, reizt mich zu drei Bemerkungen:
- Da ich noch immer nicht so genau weiß, wie Wissenschaftlichkeit – über jene formalen Bedingungen hinaus, die jedem Promovenden und Habilitanden abverlangt werden – auch qualitativ und sinnstiftend zu definieren ist, kommt mir der Verdacht, dass manche für wissenschaftlich halten, was – nachgewiesen oder nur scheinbar beglaubigt – dem Zeitgeist entspricht.
- Interessant scheint mir, auch im musikpädagogischen deutschen Musterland wenigstens zur Kenntnis zu nehmen, wie in anderen Ländern über Ziele und Wege der Musikerziehung nachgedacht wird und was das über das Musikleben und die Einschätzung der Musik aussagt.
- Das ist deswegen interessant, weil auf diese Weise vielleicht etwas, was in unseren Instituten längst in der Ablage der „Selbstverständlichkeiten“ verschwunden ist, wieder einmal in das Fach „Nachdenklichkeit“ über den Sinn dessen, was wir tun, gestellt wird. Ich meine, man kann sich sehr wohl darüber Gedanken machen, mit welchen Zielen und mit welchen Aussichten auf ein lebenslanges Musikleben der uns anvertrauten Schülerinnen und Schüler das sich bisweilen und vielerorts zur Ruhe gesetzte Musizieren in der Klasse begründet werden kann. Mir fallen viele Gründe ein, die da und dort gehandelt werden – vom Musizieren als Beitrag zum Leben in der Spaßgesellschaft; über die Hoffnung, mit praktischen Aufgaben überhaupt noch an Jugendliche „heranzukommen“; über die Hoffnung, Beiträge zur Musiklehre zu leisten, an „die Musik der Schüler“ anzuschließen, Musikalisches körperlich zu erfahren, das lebendige, selbst hervorgebrachte Klingen in die geistige Beschäftigung hineinzutragen ... bis zu Versuchen, eigene Grunderfahrungen im Musizieren zu gewinnen oder in musikalischem Handeln zu gestalten, sowie umgekehrt durch Musizieren zu solchen Grunderfahrungen überhaupt erst zu gelangen. Die Überlegungen zur Begründung des Musizierens im Klassenunterricht könnten noch fortgesetzt werden; und einige von ihnen halte ich für sehr sinnvoll.
Der zweifellos provokante Beitrag von Pavel Rojko kann als Hilfe zur Selbstvergewisserung, als Schärfung des eigenen pädagogischen Handelns, aber auch als Herausforderung zur begründeten Kritik gelesen werden. Nur eines sollte man ihm nicht antun – seine Überlegungen als zurückgeblieben und überholt abzutun, ohne an ihm die eigene Position zu überdenken.
Christoph Richter
DMP 38: Chaos – Überlegungen, ausgehend von Haydns „Schöpfung“
Das Wort zum zweiten Quartal
- Wolfgang Martin Stroh
Schutzimpfung oder Kritische Wissenschaft?
Chaos – Überlegungen, ausgehend von Haydns „Schöpfung“
- Clemens Kühn
Haydns „Chaos“ im Unterricht
Besondere analytische Wege zu einer besonderen Musik - Oliver Krämer
„Durcheinander wird Gesetz“
Das Phänomen des Chaos in den Künsten und im Unterricht - Alexis Kivi
Musikalische Annäherungen an das Unvorstellbare
Joseph Haydns „Die Vorstellung des Chaos“ im Musikunterricht - Felix Diergarten
Malereien für die Engländer
Haydns „Schöpfung“ und ein Tabu in der Musikästhetik des 18. Jahrhunderts - Frigga Schnelle
Joseph Haydns „Das Chaos“ in der Grundschule
ab Klasse 3
Musikpädagogik in den USA
- Thomas A. Regelski
Music Education for a Changing Society
(mit einer Zusammenfassung von Alexandra Kertz-Welzel)
Freie Beiträge
- Andreas Doerne
Chaos im Kopf, Wut im Bauch und Heavy Metal als Therapie
Metallicas Album St. Anger
- Wolfgang Martin Stroh