Liebe Leserinnen und Leser,
handelt es sich nun wieder um eine Mode, oder ist es eine Selbstverständlichkeit eines jeden Musikunterrichts, für alle Schularten und Jahrgänge? Vor schnellen Antworten sollte zunächst der gemeinte Wortsinn geklärt werden: Es soll Kultur erschlossen werden: kulturelle Überlieferung und kulturelles Verhalten.
Ist damit ein bestimmtes Verhalten gemeint gegenüber den Gegenständen der Musik, gegenüber dem Schulfach und gegenüber allen am Unterricht Beteiligten? Ist Musik – die Welt der Musik – als beispielhafter Teil menschlicher Kultur gemeint? Soll also Musik ausdrücklich nicht (nur) für sich genommen, d.h. herausgelöst werden aus dem Gang und dem Bestand der Kultur, sondern jeweils und stets eingebunden in das (auch) von Kultur und kulturellem Verhalten bestimmte gesellschaftliche Leben? Geht es vielleicht darum, Musikunterricht selbstverständlich und immer im Rahmen und auf dem Fundament gegenwärtiger und geschichtlicher Kultur zu erteilen, oder soll „Kulturerschließung“ lediglich bestimmten Themen, Altersstufen, Projekten, Unterrichtszeiten vorbehalten sein, gleichsam als ein „superadditum“ zum „normalen“ Musikunterricht?
Der Blick in die Geschichte des Musikunterrichts der neueren Zeit belehrt darüber, dass Musikunterricht als Gesangunterricht gleichzeitig mit dem Lernen von Liedern, mit dem Lernen des angemessenen Singens und mit dem Lernen einiger musiktheoretischer Voraussetzungen für das Singen von Liedern auch eine Art Introduktion in die Musikkultur versuchte oder betrieb, jedenfalls in einen kleinen Ausschnitt aus ihr – etwa in die Liturgie und den Liedbestand der Kirche, in den Bereich volkstümlicher und vaterländischer Lieder.
Auch berichtet die Geschichte des Musikunterrichts vor dem 20. Jahrhundert von kulturellen Zielen, die mit dem Gesang- und Musiklehreunterricht erreicht werden sollen, etwa wenn es um den Gebrauch der Lieder in Lebenssituationen geht.
Erschließung von Kultur in einem allgemeineren und umfassenderen Sinne hatte der Musikunterricht jedoch nicht zum Gegenstand und zum Ziel, etwa als Erschließung musikgesellschaftlicher Räume wie „die Art und Funktion der Musik in der höfischen Gesellschaft“, „die Art und Funktion der Musik im bürgerlichen Leben“, in der Politik, im Konzertwesen ...
Solche Inhalte und Forderungen lesen wir erst in Leo Kestenbergs beiden Reformschriften (siehe die Zitate aus ihnen in meinem Beitrag in dieser Ausgabe). Kestenberg versteht „Kulturerschließung“ – freilich benutzt er diesen Begriff nicht – als eine Art selbstverständlichen Gewürzes bei jeder Beschäftigung mit Musik. Schon bei der Musiklehre und im Singeunterricht für die ersten Schuljahre, deren Ziele, Inhalte und Methoden er in einer sieben Punkte umfassenden ‚Kurzdidaktik’ in der Schrift „Musikerziehung und Musikpflege“ von 1921 (Reprint 1990) zusammengestellt hat, verlangt er die Einbettung alles musikalischen Lehrens und Lernens in die kulturellen Zusammenhänge, in denen Lieder, Singen, Musiklehre stehen. Viel deutlicher sind jene Forderungen und Vorstellungen ausformuliert, mit denen er einerseits das Schulfach Musik in die Fragestellungen der anderen (immer schon etablierten) Fächer integriert, und andererseits Fragestellungen, Gegenstände und Zusammenhänge des gesamten gesellschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen Lebens in den Bereich des Musikunterrichts hineinstellt.
In diesen – noch heute auf ihre Realisierung wartenden – musikdidaktischen Vorstellungen ist eindeutig formuliert, dass es sich beim kulturerschließenden Musikunterricht nicht um zusätzliche Themen und Fragestellungen handeln dürfe, sondern dass das „Kulturerschließende“ von vornherein und immer Element des Unterrichts sein müsse, bei der Beschäftigung mit einem Volkslied oder Song ebenso wie bei der Analyse zwölftöniger Kompositionen. Nicht um einen Fachunterricht mit gelegentlichen Ausflügen in Fragen der allgemeinen oder der Musik-Kultur geht es, sondern um einen Unterricht, wie ihn hoffentlich alle anderen Fächer auch betreiben, also um einen Unterricht, der Kultur als persönliches Verhalten und als historischen Bestand zu übergeordneten, allgemeinen Gegenständen versteht.
Solche Überlegungen könnte Schulpolitiker dazu verführen, Schulfächer zu Lernbereichen zusammenzulegen. Im Grundschulbereich des Landes Baden-Württemberg ist das schon geschehen (vgl. DMP 30/2006, „Das Wort zum zweiten Quartal“ von Mechthild Fuchs), in der Sekundarstufe I der Länder Berlin und Brandenburg steht es bevor. Mögen solche Entscheidungen sachlich gut gemeint sein, mögen sie auch didaktisch begründet sein oder handelte es sich um Sparmaßnahmen – klar sein sollte, dass Themen, die mehrere Gegenstandsbereiche und allgemeine Fragen berühren, nur auf sicherem Boden stehen, wenn Können, Wissen, Verstehen und Arbeitsweisen der einzelnen Gegenstände solide erarbeitet und beherrscht sind. Für diese Forderung stand gerade der Musiker Leo Kestenberg ein.
So ist kulturerschließender Unterricht zwar gut beraten, wenn er den Blick über Fächergrenzen hinweg hebt und die Fragen der einzelnen Fächer zu gemeinsamen Fragen weitet und bündelt. Dies wird nur sinnvoll, wenn nicht nur das kulturerschließende Denken und Handeln, sondern gleichzeitig das fachlich gekonnte Lehren und Lernen von Anfang an, in jeder Alterstufe und bei jedem Thema als Voraussetzung betrieben werden.
Christoph Richter
DMP 31: Kulturvermittelnder Musikunterricht
Das Wort zum dritten Quartal
- Matthias Rheinländer
Komponistenbilder
Kulturvermittelnder Musikunterricht
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Kultur ist kein Besitztum
oder: Kulturerschließung passiert nicht auf Einbahnstraßen - Christoph Richter
Kulturerschließung als Aufgabe des Musikunterrichts - Marc Mönig
Zur Beziehung von Biografie und Werk im Musikunterricht - Corinna Vogel
Unterricht in Tanz als Möglichkeit eines kulturerschließenden Musikunterrichts
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Zwischen praktischer Musikerfahrung und verständiger Musikpraxis
Zum Stellenwert aktiven Musikhandelns im Klassenunterricht
Serie: Musikpädagogik in anderen Ländern
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