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Liebe Leserinnen und Leser,

 

das Thema dieser Ausgabe ist die Diskussion über Bildungsstandards und  Kompetenzformulierungen. Diese Diskussion wird zurzeit äußerst kontrovers geführt. Sie ist Ausdruck von Unsicherheit darüber, wie das Bildungssystem neu begründet und angelegt werden soll, Ausdruck auch von nationaler Eitelkeit, von Sorge um die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft, von der das Wohlergehen der Gesellschaft abhängig geglaubt wird. Die Bemühungen und Beschlüsse zu Bildungsstandards und Kompetenzforderungen sind Antworten auf den angeblich oder tatsächlich schlechten Zustand des Schulwesens, auf die Vernachlässigung von Leistung und darauf, was neuerdings für Bildung gehalten werden soll – Wissen und Können, das den Wachstumserfolg der Wirtschaft wieder herstellt. Versäumt wird die Auseinandersetzung über ein Menschenbild und über Haltungen, mit denen die unsichere Zukunft der einzelnen und der Gesellschaft gestaltet werden kann, auch wenn wir aus dem Traum vom Wohlergehen auf der Grundlage von Wirtschaftswachstum aufwachen. So sind auch die Tendenzen der Beiträge in diesem Heft, die in erfreulich großer Zahl eingetroffen sind, kontrovers, ebenso wie jene Beiträge, die im (hier kurz rezensierten) Jahresheft des Friedrichverlags zusammengestellt sind.
Die Ausgangsfrage „Woran fehlt es unseren Schulen?“ beantwortet Horst Rumpf mit der Gegenüberstellung zweier Positionen. Die „reformpädagogische“ bemüht sich um intensive Zuwendung zu den einzelnen Schülern, um Weltaneignung und Kulturerfahrung der Individuen und wendet sich gegen den „Ungeist der Erledigungshast und die pseudowissenschaftliche Hochstapelei der Stoff-Fülle“. Rumpf stellt den eifrigen und ideologischen Reaktionen auf die PISA-Studien den Begriff der „kulturellen Wurzelerfahrung“ entgegen, in der sich „Weltaspekte wurzelhaft in ihrem Sinn erschließen“. Er erinnert an den Aufsatz von Hans Brügelmann „Das kurze Gedächtnis großer Reformer“ (in: Die deutsche Schule 2/2003, S. 168- 171).
Anne Niessen und Andreas Lehmann-Wermser gehen von der unabänderlichen Gegebenheit der Standard- und Kompetenzzwänge aus. Sie diskutieren Chancen und Schwierigkeiten,  die die allgemeinen politisch-pädagogischen Vorgaben für das Fach Musik bedeuten. Anknüpfend an Hermann Josef Kaisers Abgrenzung „musikbezogener“ und „musikalischer“ Erfahrungen plädieren sie für Leistungsdefinitionen im ersten der genannten Bereiche.  Den Bereich der „musikalischen Erfahrung“ möchten sie aus den Zwängen der Schule nach PISA heraushalten – als individuelle, nicht testbare Beschäftigung mit Musik.
Ich erwäge Möglichkeiten von Kompetenz- und Testformulierungen, die nicht, wie die Expertise des Bildungsministeriums es vorschreibt, von allgemeingültigen Standard- und Kompetenz-Definitionen ausgehen. Vielmehr befrage ich – umgekehrt – die Musik selbst und die Musikpädagogik als ihre zuständige Fachinstanz darauf hin, welche „Kompetenzen“ ein individueller und produktiver Umgang mit Musik auslöst und anbietet. 
Zwei Beiträge beschäftigen sich mit den „national standards“ in den USA; der Beitrag von Alexandra Kertz-Welzel mit ihrer Geschichte und ihren Forderungen, der Beitrag von Beatrix Engels mehr mit der Kritik, welcher die standards in den USA ausgesetzt sind, sowie mit dem Versuch einer Anwendung. 
Oliver Krämer plädiert für Kompetenzformulierungen, die nicht Wissens- und Könnensforderungen postulieren, sondern Umgangs- und Verhaltensweisen. Er hat außerdem ermittelt, welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler für wichtig und erstrebenswert halten. 
In der neuen Rubrik „Beiträge zur zweiten Phase der Lehrerausbildung“ gibt Sabine Hoene Informationen zur Neustrukturierung der Lehrerausbildung in Schleswig-Holstein. Sie stellt die sehr allgemein gehaltenen Module zusammen, die in den verschiedenen Schularten gelten sollen, und fügt den „Allgemeinen Ausbildungsstandards“ eine von Fachleuten beratene Liste fachspezifischer Ausbildungsstandards an. Diese Materialien dokumentieren zugleich, in welcher fragwürdigen Weise das Referendariat in Schleswig-Holstein faktisch abgeschafft worden ist.
In einer nachdenklichen Replik zur Auseinandersetzung der Kollegen Matthias Flämig, Jürgen Vogt und Hermann Josef Kaiser mit seiner Schrift „Der Musikverstand“ erläutert Wilfried Gruhn noch einmal das Konzept des „Musiklernens“ auf der Basis neurobiologischer Einsichten. Gruhn stellt seine Theorie in drei Abschnitten dar; er nennt sie „Musiklernen“, „Lerntheorie“ und „Repräsentation“. Vor allem betont er den Angebotscharakter dieser Theorie für musikpädagogisches Denken und Handeln.
Hans Günther Bastian sucht Antworten auf die Frage „Brauchen wir Forschung im kulturpolitischen Alltag?“  Damit schließt er an frühere Untersuchungen an, mit denen er Politiker und die Öffentlichkeit auf Defizite, Notwendigkeiten und allgemeine Chancen der Musikerziehung aufmerksam machte. In dem hier vorgelegten Bericht geht es um das Wechselverhältnis „von  Forschung und Politik“ mit seinen Konsequenzen für die Menschen  In 13 Punkten stellt er Fragen zusammen, die solche Konsequenzen aufzeigen könnten. 
Im Magazin veröffentlichen wir, u. a. die Beschreibung der Dissertation von Iwan Pasuchin und die Leserzuschrift von Ralf Beiderwieden.

 

Christoph Richter

DMP 27: Musikdidaktik 2005 – Musikpädagogische Forschung

Artikelnummer: DMP-Heft-27
14,50 €Preis
inkl. MwSt. |
Anzahl
  • Das Wort zum dritten Quartal

    • Christoph Richter
      Das Wort zum dritten Quartal
      Lehrerausbildung à la Bolognese

    Bildungsstandards – Kompetenzen

    • Horst Rumpf
      Bildungsstandards?
      Einwände gegen die absehbare Verödung des Lebens
    • Anne Niessen & Andreas Lehmann-Wermser
      Bildungsstandards in Musik
    • Christoph Richter
      Auf der Suche nach Bildungsstandards und Kompetenzformulierungen im Fach Musik
    • Oliver Krämer
      Gemeinsame Lernvereinbarungen über Standards hinaus
      Mit Schülerinnen und Schülern festlegen, was sie lernen wollen
    • Beatrix Engels
      Anwendung der Bildungsstandards in den USA
      Die amerikanische Bildungsreform
    • Alexandra Kertz-Welzel
      Performing with Understanding
      Die National Standards for Music Education und ihre internationale Bedeutung

    Die zweite Ausbildungsphase der Musiklehrerausbildung

    • Sabine Hoene
      Informationen zur Neustrukturierung der Lehrerausbildung in Schleswig-Holstein

    Musikpädagogische Forschung

    • Wilfried Gruhn
      Anmerkungen zum Musiklernen
      oder: Wie viel Neurobiologie verträgt die Musikpädagogik?
    • Hans Günther Bastian
      Brauchen wir Forschung im kulturpolitischen Alltag?
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