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Liebe Leser:innen,

 

zu Leo Kestenberg, seiner Person und seinem Wirken ist vieles und für manche bereits alles gesagt. Und doch scheint sein Name immer wieder auf, wenn das Schulfach Musik und die musikalische Bildung insgesamt auf dem Spiel stehen: Stundenkürzungen, Fachkräftemangel in allen musikpädagogischen Berufen, Kürzungen in den Kulturetats, das Herrenberg-Urteil – immer wieder wird uns vor Augen geführt, dass bis heute an der Umsetzung eines von Kestenberg wesentlich initiierten Gesamt­konzepts musikalischer Bildung noch gearbeitet werden muss. Kestenbergs Visionen sind eine Leitlinie, hinter die wir nicht zurücktreten wollen. Fast scheint es, als müsste Kestenberg angerufen werden, weil das gefährdet ist, was nie in Gänze verwirklicht werden konnte.
Ein wesentlicher Anstoß für das vorliegende Themen­heft zu Leo Kestenberg ist Dietmar Schenks Schrift Menschenbildung durch Musik. Leo Kestenberg und Weimars Musikreform 1918–1932 zu verdanken, aus der auch sein hier vorliegender Beitrag hervorgeht. Der ehemalige Leiter des Archivs der Universität der Künste Berlin hat die bereits lange zugänglichen Quellen neu gewichtet und den Blick auf die weitgehend aus schulmusikalischer Perspektive erzählten Narrative erweitert. Für ihn stehen die kulturreformerischen Dimensionen einer Weimarer Musikreform im Fokus, den er in seiner Darstellung weder auf das Schulfach Musik beschränken noch im Sinne einer Kestenberg-Reform auf das Wirken einer einzigen Person verengen möchte.
Wie sich solche Zusprechungen und Relativierungen bereits in den letzten zwanzig Jahren durch eine intensive Auseinandersetzung mit den zu erschließenden Quellen erweitert haben, stellt Andreas Eschen in seinem Beitrag zur Entwicklung der Kestenberg-Rezeption dar. Den Ausgangspunkt bildete zum einen die von Wilfried Gruhn, Ulrich Mahlert und Dietmar Schenk verantwortete Gesamtausgabe der Gesammelten Schriften Kestenbergs, zum anderen die zahlreichen Einzelstudien, die sich mit den Personen aus Kestenbergs Umfeld beschäftigt haben: Es waren auffällig viele Frauen, wie etwa Maria Leo und Frieda Loebenstein, die insbesondere an den Entwicklungen der Instrumentalpädagogik maßgeblich beteiligt waren. Eschen plädiert dafür, die Diskussion an dieser Stelle nicht zu beenden: Anstatt Kestenbergs Verdienste in Frage zu stellen, sollte es nach der Lektüre der neueren Literatur eher darum gehen, ihn vor einseitigen Vereinnahmungen zu schützen. 
Ina Henning und Sarah Ross haben sich in ihrem Beitrag der Aufgabe gestellt, Kestenbergs Wirken in seinen verschiedenen Lebensphasen in den unterschiedlichen Kontexten jüdischer Kultur und ihrer Geschichte zu verorten. Auch in diesem Beitrag werden damit Dimensionen beleuchtet, die bisher hinter musikpädagogischen Perspektiven zurückstanden und zu wenig Beachtung erhielten. Ließ man es bisher bei einer vordergründigen Darstellung eines Verfolgten bewenden, der rechtzeitig das Land seiner Heimat verlassen konnte, widmen sich die Autorinnen hier der Frage, wie Kestenbergs jüdische Herkunft, seine sozialistischen Ideale und seine künstlerische Prägung sich wechselseitig beeinflussen und in den jeweiligen Lebensphasen im kulturpolitischen Handeln widerspiegeln.
Jürgen Oberschmidt stellt die Frage nach dem Wesen des „Künstlerischen“ neu. Vor dem Hintergrund einer erweiterten Ausrichtung des Musikunterrichts und der damit verbundenen Pluralität der musikalischen Praxen erinnert er daran, dass Kestenbergs Vision von einem musikpädagogischen Institut, das sich ausschließlich der Lehrkräftebildung zu widmen habe, nie verwirklicht werden konnte. Dass ausgehend von Kestenbergs Ideen das Pendel im künstlerischen Lehramt zu einer sich oft gar nicht versteckenden instrumental-künst­lerischen Ausbildung umschlug, ist also nicht Kestenberg vorzuhalten. So bleibt zu diskutieren, wie es gelingen kann, an ursprünglichen Orientierungen festzuhalten, um einen Kunstbegriff zu etablieren, der das Künstlerische im Elementaren sucht und an die Lebenspraxis der Schüler:innen anbindet.
Den Abschluss der thematischen Auseinandersetzung mit Kestenberg bildet der Beitrag von Wilfried Gruhn: Für ihn ist wesentlich, dass die akademische Lehrkräftebildung mit ihren wissenschaftlichen, pädagogischen und künstlerischen Anteilen auch heute noch „auf Kestenbergs Schultern“ steht. Vor diesem Hintergrund sorgt Gruhn sich um einen Musikunterricht, der seinen eigentlichen Gegenstand ,Musik‘ und damit sein Fundament und die ihn zentrierende Mitte verloren habe. So habe in einer rückbesinnenden Auseinandersetzung mit Kestenberg immer auch eine Verständigung über das Fach und damit eine „Selbstvergewisserung“ stattzufinden. Mögen nun die geneigten Leser:innen diesem Aufruf folgen und die einzelnen Beiträge zum Anlass nehmen, um mit Kestenberg den eigenen Standpunkt zu hinterfragen. Schließlich impliziert Wilfried Gruhns provokante Frage „Was ist geblieben?“ einen Aufruf, dass wir uns vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussionen über ein bedrohtes Fach dringend damit auseinandersetzen müssen, in welche Richtung wir in Zukunft gehen wollen, damit wir den Musikunterricht von morgen weiterhin auf ein sicheres Fundament stellen, man könnte auch sagen: um ihn auf Kestenbergs Schultern immer wieder (neu) zu beleben und zu gestalten.
Das Heft wird durch drei freie Beiträge von Fabiola Friedl, Monika Unterreiner und Christoph Goldstein sowie eine Rezension von Benjamin Eibach ergänzt.


Jürgen Oberschmidt (als Gastmitherausgeber dieses Heftes),
Rebekka Hüttmann, Oliver Krämer und Annette Ziegenmeyer

DMP 106: Kestenberg

Artikelnummer: DMP-Heft-106
14,50 €Preis
inkl. MwSt. |
Anzahl
  • Kestenberg

    • Dietmar Schenk
      Leo Kestenberg heute
      Eine Stellungnahme aus historischer Sicht

    • Andreas Eschen
      Die Entwicklung der Kestenbergrezeption seit 2005

    • Ina Henning & Sarah Ross
      Funktionär, Pädagoge, Pianist
      Eine ergänzende Betrachtung der Person Leo Kestenberg im Spiegel des jüdischen Milieus

    • Jürgen Oberschmidt
      Was heißt hier künstlerisch?
      Einige Anmerkungen zur Situation des Musikunterrichts

    • Wilfried Gruhn
      Kestenbergs Schulmusikreform in schulpolitischer und bildungstheoretischer Perspektive
      Was ist geblieben?

    Freie Beiträge

    • Fabiola Friedl
      Trans*inklusiver Musikunterricht
      Forschungsstand, Interviews und Leitfaden

    • Monika Unterreiner
      Von Anerkennung und Critical Whiteness
      Moralische Kategorien Studierender der Musikpädagogik im Gespräch über vorurteilsbewussten Musikunterricht

    • Christoph Goldstein
      August Halms Violinübung
      Mehr Kreativität auf dem Griffbrett

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