Liebe Leserinnen und Leser,
am 7. und 8. Dezember des vergangenen Jahres ehrte die Fakultät Musikpädagogik der Hochschule für Musik in Frankfurt a. M. die frühere Kollegin Prof. Dr. Sigrid Abel-Struth anlässlich der 25. Wiederkehr ihres Todesjahres mit einem Symposium. Das Spektrum der Beiträge und ihrer Diskussionen war ebenso weit gefächert wie die Teilnehmerschaft. Sie bestand aus ehemaligen Kolleginnen und Kollegen, aus ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ihres Instituts und aus Studierenden der Musikpädagogik. Referate, die man gerne im Beisein von Frau Abel gehalten hätte, Ereignisse aus ihrer privaten und beruflichen Biographie und immer wieder Erinnerungen, Anekdoten und Zitate malten ein aspektreiches Gemälde vom Schaffen und Wirken von Sigrid Abel-Struth. Maria Spychiger, die dieses Symposium angeregt und gestaltet hatte, sorgte für eine liebevoll-herzliche Atmosphäre.
Frau Abel, wegen deren Suche und Forderung nach einer freien, unabhängigen Wissenschaft der Musikpägogik das Symposium stattfand, hat oft und besonders deutlich in ihrem Referat anlässlich der Bundesschulmusikwoche 1982 in Berlin formuliert, welchen Gebieten sich eine Wissenschaft der Musikpädagogik widmen solle: ihrer Geschichte, den Grundlagen für das Musiklernen in unserer Zeit und den geistigen Hintergünden des Musikunterrichts wie auch der Wissenschaft einer erst noch aufzubauenden Musikpädagogik.
In der hier vorgelegten Ausgabe der „Diskussion Musikpädagogik“ stellen wir einen möglichen weiteren (vierten?) Forschungsbereich der Musikpädagogik vor – das Konzept des Erforschens eigenen Unterrichts durch Lehrerinnen, Lehrer und helfenden Personal aus Hochschulen. Lehrer sollen mit wissenschaftlichen Fragen und Methoden die Grundlagen und die Praxis ihres eigenen, konkreten Musikunterrichts untersuchen – sein Gelingen, sein Verfehlen, seine Bedingungen und Hindernisse. Sie sollen das nicht naiv-selbstverständlich tun, irgendwie nach dem Unterricht oder beim Vorbereiten der kommenden Stunden, sondern mit Hilfe wissenschaftlicher Kriterien und auf geländergestützten Wegen.
Ein solches Konzept der Forschung soll den Unterrichtenden vorbehalten sein. Die Autorin und die Autoren verweisen in ihren Beiträgen auf Erfahrungen aus der Unterrichtspraxis. Sie erörtern Forschungshilfsmittel und beschreiben, wie solche Forschung vorgehen kann. Das klingt verheißungsvoll und ist anspruchsvoll. Das Konzept ist anregend und macht Mut zu genaueren Untersuchungen über Musikunterricht, jedenfalls wenn man es als eine Anregung für eine in der Praxis erprobte Forschung versteht.
Und doch – darin sehe ich den Wert dieser Anregung – bleiben manche Fragen unbeantwortet. Sie anzudeuten und damit die weitere Entwicklung anzuregen erlaube ich mir in den folgenden Stichworten:
- Wie genau unterscheiden sich in diesem Konzept Forschung und Wissenschaftlichkeit von der inneren und äußeren Reflexion, die Lehrende, anfangend noch im Unterricht selbst, weiterdenkend auf dem Heimweg bis zum Schreibtisch und zur Rückkehr in den Musiksaal betreiben? Ein solcher Vergleich müsste eine grundsätzliche Erörterung über die Begriffe ‚Forschung’ und ‚Wissenschaft’ in Gang setzen.
- Eine solche Erörterung müsste nach dem Gewinn einer solchen Unterrichtsforschung fragen. Danach nämlich, ob strikte Wissenschaftlichkeit (wie auch immer angesetzt und formuliert) die gewünschte Lebendigkeit, Zufälligkeit, Veränderlichkeit und damit Kreativität und Individualität aller Beteiligten nicht verkürzt oder gar paralysiert.
- Welches individuelle und veränderliche Gewicht hat die Auseinandersetzung mit den konkreten Musik-Gegenständen? Was macht die normierende und abblendende Tendenz von Forschung aus ihnen?
- Wie und mit welchem Nutzen sollen Forschungsergebnisse formuliert werden? Wie sollen sie Unterricht verändern, mit welchen Zielen und mit welcher ‚Menschenprägung’?
- Wie kann es gelingen, die Forschungs-Opfer an der Forschung zu beteiligen, also Unterricht mitsamt seiner Reflexion ‚von unten’ anstatt ,von oben’ zu inszenieren?
Wenn schon überall von ‚Kompetenzorientierung’ anstatt von Menschenbildung die Rede ist, ist dann nicht die Kompetenz, das eigene Tun (oder Nichttun) der Lehrenden, der Mitschüler und der Didaktiker immer kritisch im Blick zu haben, wichtiger als eine „Be-Forschung“ des Unterrichtsgeschehens?- Schließlich kann der Lehrer fragen, wie außer der wachsenden Belastung mit fremdberuflichen Arbeiten auch noch die Forschung über den eigenen Unterricht zeitlich untergebracht werden kann. Diese Forschung muss ja in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Unterricht stehen.
Aufmerksam machen möchte ich besonders auf den Beitrag von Dorothee Barth zum Thema der interkulturellen Musikpädagogik. Er sollte im vorletzten Heft veröffentlicht werden. Aus persönlichen Gründen wurde er nicht fristgerecht fertig. Die verspätete Veröffentlichung hat den Vorteil, dass Frau Barth sich mit Gedanken aus dem vorletzten Heft auseinandersetzen konnte. Einen Nachteil kann man nennen, dass manche Leser, um das Thema im Zusammenhang zu bedenken, zwei Hefte zur Hand nehmen müssen.
Christoph Richter
DMP 57: Forschung aus der Perspektive musikpädagogischer Praxis
Das Wort zum ersten Quartal
- Christoph Richter
Vom (Über-)Leben einer Zeitschrift, oder: die Zeitschrift als gemeinsame Sache
Das Wort zum ersten Quartal
Forschung aus der Perspektive musikpädagogischer Praxis
- Thade Buchborn & Isolde Malmberg
Forschung aus der Perspektive musikpädagogischer Praxis - Tim Cain
Teachers’ practitioner research in music education: the state of the art - Wilfried Aigner
Datenfülle in schulischen Praxisforschungsprojekten
Eine Herausforderung für die forschende Auswertung - Thomas De Baets
(Übersetzung aus dem Englischen von Thade Buchborn)
Entering the ‚real world’
Die Videokamera als ‚zweiter Beobachter’ bei der Beforschung eigenen Musikunterrichts - Thade Buchborn
Konzeptionelle Entwicklungsarbeit
Methodisch-didaktische Aspekte von Musikunterricht aus der Perspektive von Praxis reflektieren und entwickeln - Isolde Malmberg
Die eigene Unterrichtspraxis erinnern, beschreiben und auswerten
Fallrekonstruktion im Fokus musikpädagogischer Praxisforschung - Thade Buchborn, Tim Cain & Isolde Malmberg
Ausführliches Literaturverzeichnis zum Heftthema
Serie: Musikpädagogische Texte aus früherer Zeit
- Theodor Warner
Ausschnitte aus der Schrift„Musische Erziehung zwischen Kunst und Kult“
kommentiert von Christoph Richter
Freie Beiträge
- Dorothee Barth
„In Deutschland wirst du zum Türken gemacht!!“
oder: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.“
- Christoph Richter