Liebe Leserinnen und Leser,
Brigitte Lion hat eine Dissertation über die Spannungen geschrieben zwischen dem Denken und Handeln der Person und den Zumutungen von Institutionen, denen sie verpflichtet ist. Der genaue Titel: „Dilemma: Irritation und Lernanlass. Alltag an der Musikuniversität – Spiegel von Spannungen und Widersprüchen in Gesellschaft, Organisation und Personen“. Nachdem die Arbeit bekannt geworden war, haben mir mehrere Kolleginnen und Kollegen vorgeschlagen, zu diesem zweifellos wichtigen Thema ein Themenheft zusammenzustellen. Das ist mit Hilfe von Frau Lion gelungen, der für ihre Hilfe herzlich gedankt sei. Ich habe – obwohl ich selbst ein etwa vierzig Jahre lang Betroffener bin – mit wachsendem Interesse und mit wachsender Verärgerung gelesen, wie Organisationen und Institutionen ehrlich bemühten Menschen das Leben schwer machen und wie sinnvolle Konzepte zwischen bürokratischen Mauern und Forderungen zerrieben werden.
Die Spannung zwischen den Personen mit ihrem guten Willen und den eigenen Gestaltungsvorstellungen ihres Lebens und – andererseits – den abstrakten, schlecht überlegten, nur auf Funktionieren getrimmten Planungen ist nicht nur ein Dilemma, aus dem kaum herauszu- kommen ist, sondern eine Aufgabe, in der es gilt, den Einzelnen vor der Einvernahme und der Entpersonalisierung zu retten. Die „dilemmatische“ Situation, die umso deutlicher in vielen, auch in unscheinbaren Zwängen, zum Vorschein kommt, je genauer man auf die Lebens- und Handlungsverhältnisse in allen Gesellschaften blickt, haben die Autorinnen und der Autor dieser Ausgabe an Situationen ihrer Berufsaufgaben geschildert, nicht ohne allzu verständliche Verbitterung, Kritik und Ironie, aber auch teilweise mit Zustimmung.
Beim Versuch, die aufgezeigten Unverträglichkeiten zu verstehen, stößt man auf eine Grundfigur des Verhaltens und des Zusammenlebens, die von mehreren Facetten geprägt ist:
Es geht um Macht und Kontrolle über Menschen. Es geht – das ist besonders bedenklich und verwerflich – um Lust und Eifer an jenen sich verselbständigenden Spielen, welche die anvertrauten Menschen als Figuren behandeln, deren ursprünglich leuchtende Farbigkeit und Einmaligkeit abgegriffen, zerschunden und auswechselbar erscheinen.
Die Geschichte der Institutionen kann als ein eindrucksvolles Lehr- und Bilderbuch gelesen werden, das in vielen Kapiteln davon handelt, was die Institutionen, die Organisationen, manche Wissenschaften, manche Erziehungssysteme aus den Individuen macht oder zu machen versucht: Platons „Staat“; die Härte des Römischen Reiches; viele Religionsgemeinschaften; totalitäre sowie demokratisch genannte Formen des Zusammenlebens. Von den vielen aufgeklärten Geistern, die über die mögliche Linderung der offenbar kaum vermeidbaren Spannungen zwischen den Personen und den Institutionen (die diese verwalten zu müssen glauben) nachgedacht haben, seien zwei genannt - Wilhelm von Humboldt und Norbert Elias.
Wilhelm von Humboldt hat in seiner Schrift „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“ (1792) eine Schrift, die offenbar zum Bruch mit von Hardenberg und Metternich geführt hat und zur Aufgabe des politischen Wirkens – ein Kapitel „Sorgfalt des Staats für das Wohl der Bürger“ genannt. In diesem Kapitel erläutert Wilhelm von Humboldt in sieben Thesen das wünschenswerte Verhältnis zwischen Individuum und Staat. Ich zitiere einige seiner Gedanken:
Je mehr also der Staat mitwirkt, desto ähnlicher ist nicht bloß alles Wirkende, sondern alles Gewirkte (...) Allein, was der Mensch beabsichtigen (...) muß, ist ganz etwas anderes, ist Mannigfaltigkeit und Tätigkeit.
Anordnungen des Staats aber führen immer mehr oder minder Zwang mit sich, und selbst, wenn dies der Fall nicht ist, so gewöhnen sie den Menschen zu sehr, mehr fremde Belehrung, fremde Leistung, fremde Hilfe zu erwarten, als selbst auf Auswege zu denken. Noch mehr aber leidet durch eine zu ausgedehnte Sorgfalt des Staats die Energie des Handelns überhaupt und der moralische Charakter.
Was nicht von dem Menschen selbst gewählt, worin er auch nur eingeschränkt und geleitet wird, das geht nicht in sein Wesen über (...), das verrichtet er nicht eigentlich mit menschlicher Kraft, sondern mit mechanischer Fertigkeit.
Die Menschen werden (...) um der Sachen, die Kräfte um der Resultate willen vernachlässigt. Ein Staat gleicht nach diesem System mehr einer aufgehäuften Menge von leblosen Werkzeugen der Wirksamkeit (...) als einer Menge tätiger und genießender Kräfte. (...) Dadurch aber werden die Geschäfte beinahe völlig mechanisch und die Menschen Maschinen.
Norbert Elias widmet sich dem Verhältnis zwischen Individuum und Staat (Institution, Organisation) von der anderen Seite. Er erläutert an vielen Beispielen aus der Gesellschaftsgeschichte, dass und wie eine Gesellschaft (eine Gruppe) aus Individuen - aus dem, was sie einbringen können, aus ihren Vorstellungen und Erfahrungen - entsteht und besteht. Aus einem beweglichen und veränderlichen Netz aus Individuen entsteht eine „Gesellschaft der Individuen“. Die gegenseitige Beeinflussung und Einwirkung von Individuen und Gesellschaft fasst er in das Bild: „Der einzelne Mensch ist beides: Münze und Prägstock zugleich. Die Prägstockfunktion des einen mag größer sein als die von anderen, er ist immer zugleich auch Münze.“ Elias nennt dieses Verhältnis „Gesellschaftsspiel“.
Beide Schriften könnten Mut machen, Widerstand gegen die Degradierung von Schülern, Kindern, Studierenden, Referendaren, Lehrern, Hochschullehrern ... bis zu Politikern und Verwaltungsbeflissenen aufzubauen. Nicht durch einen großen Aufstand, sondern in vielen kleinen (trickreichen) Schritten und persönlichen Entscheidungen könnte die Spannung zwischen Personen und Institutionen abgebaut werden.
- Wilhelm von Humboldt, Ideenzu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, zitiert nach der Ausgabe Stuttgart 1967 (Reclam1991/92/92 a)
- Norbert Elias, Die Gesellschaft der Individuen, Frankfurt (Suhrkamp) 1987, siehe vor allem S. 83/84
Christoph Richter
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Das Wort zum vierten Quartal
- Christoph Richter
Bildungs-Schrot(t)
Das Wort zum vierten Quartal
Die Spannung zwischen Person und Institution in Schule und Hochschule
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