Die Systematische Musikwissenschaft in ihrer Bedeutung für die Musikpädagogik
Liebe Leserinnen und Leser,
anläßlich des Symposiums zum 60.Geburtstag von Bernd Enders hatte ich Gelegenheit, die Breite und Fülle der Themen und Fragestellungen der heutigen Systematischen Musikwissenschaft kennen zu lernen. Gleichzeitig aber wurde bei diesem Symposium d as Schattendasein der Systematischen Musikwissenschaft an den Universitäten, den Musikhochschulen und anderen Einrichtungen sowie in der öffentlichen Wahrnehmung bedauert. Das brachte mich auf den Gedanken, in einer Ausgabe unserer Zeitschrift jenen Fragestellungen und Interessen Raum zu geben, die in der Musiklehrerausbildung und als Themen des Musikunterrichts Gewicht haben sollten.
Zusammen mit Bernd Enders, dem für seine große Hilfe gedankt sei, und nach längeren Planungen stellen wir in diesem Heft eine Reihe von Beiträgen zusammen, von den wir annehmen, dass Musikpädagogen und Schülerinnen wie Schüler sie zur Kenntnis nehmen und erörtern sollten. Außer der Frage, womit sich die Systematische Musikwissenschaft seit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert (aber eigentlich schon weit vor der historischen Musikforschung) beschäftigt und wie sie an Umfang der Forschung und deren Brisanz zugenommen hat, zeichnen sich einige facettenreiche Forschungsbereiche ab. Sie beschäftigen sich mit dem weiten Gebiet des Hörens, mit der Rezeption und den Präferenzen von Musik, mit der Musiktheorie, mit der musikalischen Begabung und – in höchst umstrittener Weise – mit Transfereffekten von musikalischen (musikbetonten?) zu anderen Handlungen.
Eher unbeabsichtigt hat sich in die vorliegende Ausgabe aus aktuellem Anlass ein zweites und schon lange nicht mehr ehrlich diskutiertes Thema eingestellt: Vieles ist dabei zusammen gekommen: die ausführliche Einladung Jürgen Terhags zum nächsten AfS-Kongress, bei welchem „50 Jahre Popmusik im Unterricht“ gefeiert werden sollen; und die strittige Erörterung des gerade erschienenen musiktheoretischen Schulbuchs von Clemens Kühn, deren kontrapunktische Wirkung wir uns nicht entgehen lassen wollen. In diesem Buch arbeitet Clemens Kühn ausschließlich mit Beispielen aus dem Bereich der klassischen Musik – das aber werfen ihm mehrere Rezensenten vor. Mit dem Argument, man könne heute nicht an den Interessen der Schüler und an „ihrer Musik“ vorbeigehen.
Die Beschränkung auf die Beispiele aus dem Bereich der sogenannten Klassischen Musik ist unbestreitbar. Da ist es nützlich, die Argumente zur Kenntnis zu nehmen, die Kühn in dem „Wort zum ersten Quartal“ für sein Konzept vorbringt, ebenso wie man die (in meinen Augen ein wenig schwächlichen) Argumenten der Kritiker aufnehmen sollte. Gibt es heute doch sehr viel Material für den Unterricht, das sich ausschließlich der Pop-/Rockmusik widmet und dann häufig auch nur den Möglichkeiten, diese Musik vereinfacht zu musizieren.
Bei diesem nicht geplanten Zusammentreffen gibt es glücklicherweise die Gelegenheit (die Notwendigkeit, scheint mir, gibt es schon lange), das Verhältnis und die möglichen Beziehungen zwischen den beiden großen Bereichen der Musik wieder einmal „sachlich“ zu bedenken. Mit sachlich meine ich: das Gemeinsame und das Gegensätzliche oder Unterschiedliche im Hören, im Musizieren, im Komponieren, im Bereich der Bewegung, in der Art der Darbietung und des Marketings, aber auch in der historischen und kulturellen Aufklärung herauszuarbeiten. Mir scheint, es wäre gut, die Besonderheiten und Eigentümlichkeiten beider Bereiche gegeneinander zu stellen; dann aber, auf einer allgemeinen Ebene menschlicher (anthropologischer und psychologischer) Grunderfahrungen und Grundhandlungen, über das nachzudenken, was an beiden Bereichen vergleichbar ist – die Wünsche von Menschen, die „Nutzung der Musik als persönliche Lebensmittel“ , das Sich-Ausleben in der Musik, die Freude an ihr, die symbolische Kraft, die von ihr ausgeht ...
Dann wenn die etwas zu schlichte, plumpe und von gegenseitigen Voreingenommenheiten getrennte Bereiche, die auf beiden Seiten fest zementiert sind, durchlöchert würden, könnte vielleicht ein sachliches und seriöses, von gegenseitiger Achtung vor der Qualität der Musik und des Musizierens geprägtes musikpädagogisches Zeitalter eingeläutet werden, das sich von primitiven Verbrüderungen gleichwohl frei hält.
Solche Überlegungen könnten auch die Blockaden gegenüber einem musiktheoretischen Schulbuch beseitigen und, auf der anderen Seite, ihren Nutzen für den angemessenen Umgang mit der Popmusik protegieren. Der orthodoxe Glaubenskrieg könnte sich als überflüssig erweisen, weil keiner Seite etwas genommen würde.
Christoph Richter
DMP 41: Die Systematische Musikwissenschaft in ihrer Bedeutung für die ...
Das Wort zum ersten Quartal
- Clemens Kühn
Musik als Kunst
Unzeitgemäße Thesen zu einem zeitgemäßen Musikunterricht?
Die Systematische Musikwissenschaft in ihrer Bedeutung für die Musikpädagogik
- Bernd Enders & Christoph Richter
Über die Bedeutung der Systematischen Musikwissenschaft für den Musikunterricht - Reinhard Kopiez
Systematische Musikwissenschaft als Bezugswissenschaft der Musikpädagogik
Sechs Anknüpfungspunkte - Wolfgang Auhagen
Audiovisuelle Wahrnehmung aus musikpsychologischer Sicht
Anregungen für die Musikpädagogik - Herbert Bruhn
Schulreformen ohne wissenschaftliche Fundierung
Was trägt die Musikwissenschaft zur Stabilisierung ihres Vermittlungsfachs bei? - Norbert Schläbitz
Für eine musikpädagogisch relevante Musikwissenschaft
Freie Beiträge
- Marina Tzouli
Zur Situation der Musikerziehung in Griechenlan - Marina Tzouli
Griechische Spiellieder
Anmerkungen zu den Tachtarismata - Mary C. Kennedy
From Sea to Sea
Snapshots of Music Education in Canada - Jürgen Terhag
50 Jahre Populäre Musik in der Schule
Zum Stand der Popdidaktik zwischen Rockklassikern und Eintagsfliegen - Matthias Rheinländer
Fundamente sind notwendig
Musikunterricht auf der Basis von Musiktheorie - Christoph Richter
Musiktheorie im Musikunterricht – Klassik oder Pop?
Clemens Kühn: Musik erforschen (s. u.: Magazin)
- Clemens Kühn