Liebe Leserinnen und Leser,
die Idee zu einem Themenheft über die Didaktik des Musikunterrichts in der Grundschule entstand in Gesprächen am Rande der Tagung, welche das Musikseminar an der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Januar 2006 veranstaltete (Tagungsbericht im Verlag „Blaue Eule“, Essen 2006; Rezension siehe S. 59). Die Anwesenden beklagten, es gebe kaum oder jedenfalls viel zu wenig Interesse, Forschung und reflektierte Konzepte für diesen Bereich der Musikdidaktik. Wie bei den anderen Bereichen werde die Grundschuldidaktik von praktischen Unterrichtsanregungen, von vorgefertigten Materialien dominiert, und der Unterricht selbst aus eingespielten eigenen Erfahrungen gespeist. Grundsätzliche, theoretisch gesicherte und durchdachte Überlegungen gebe es kaum.
Eine Durchsicht der musikpädagogischen Literatur der letzten Jahre bestätigt den Mangel an grundsätzlichen Arbeiten zur Musikdidaktik in der Grundschule. Das ist doppelt verwunderlich, weil einerseits nach dem Kriegsende in der Didaktik des Schulfaches Musik gerade Grundschulfragen und -konzepte Beachtung fanden, und weil andererseits Unterrichtsausfall und fachfremd durchgeführter Musikunterricht in der Grundschule das Fach Musik marginalisieren.
Ein zweites Erlebnis im Zusammenhang mit der Freiburger Tagung verstärkte den Entschluss, ein Themenheft zum Musikunterricht in der Grundschule zusammenzustellen. Ich hatte nach der Tagung Gelegenheit, im Freiburger Gordon-Institut die musikalische Arbeit mit sehr jungen Kindern zu erleben (ausführliche Informationen im Internet über: www. Gordon-Institut Freiburg). Wie Wilfried Gruhn und seine Mitarbeiterinnen an jenem Vormittag mit den Kindern in kleinen Gruppen „Musikalisierung“ betrieben – mit Singen, Bewegen, Spielen, Sprechen u. a. –, faszinierte mich aus mehreren Gründen:
Die geduldige, zugewandte und für alle Beteiligten selbstverständliche Art, in welcher die jeweiligen Betreuer Lieder, Verse, Bewegungsrituale, Ansprechen Einzelner immer wieder vormachten, wiederholten, zum Mit- und Nachmachen einluden, in Erinnerung brachten, Vertrautheit erzeugten ..., war berührend. Eingebettet oder versteckt in diese liebevoll, aber zugleich konsequent betriebenen Spielsituationen und Zuwendungen zu jedem einzelnen Kind war musikalisches Handeln, das durch Wiederholungen, Abänderungen und Wiederaufnahmen allmählich vertraut und gelernt wurde – mit kleinen Liedzeilen, Schlusswendungen, mit dem Spiel aus Frage und Antwort, mit freien Dialogen, individuellen Sing- und Sprechweisen. Ein Begrüßungs- und ein Abschiedslied bot einen verlässlichen Rahmen für das wöchentliche Erlebnis der Kinder und machte es zu einem vertrauten Datum im Wochenablauf. Man mag diese „Musizierstunden“ mit ihrer Systematik und wachsenden Vertrautheit im einfachen Umgang mit Musik und musikalischen Ritualen als Ersatz für die früher mögliche familiäre „Musikalisierung“ im Alltag von kleinen Kindern ansehen – jedenfalls legen sie ein Fundament für selbstverständlich-unreflektiertes, aber beständiges Musiklernen, vergleichbar den Prozessen des Sprechenlernens, des Spielenlernens, der Kommunikation.
Beide Ereignisse, sowohl die Einsicht in den vielfach vernachlässigten Musikunterricht in der Grundschule als auch die „Musizierstunden“ im Gordon-Institut, führten schließlich zur Planung und zur Zusammenstellung des vorliegendes Heftes.
Es erwies sich zunächst als schwierig, genügend Autorinnen und Autoren zu finden und zur Mitarbeit zu gewinnen, was ein weiterer Hinweis auf die offensichtlich an den Rand des Interesses geratene Grundschul-Musikdidaktik war. Ohne Hilfe von Mechtild Fuchs wäre dieses Heft wohl nicht zustande gekommen.
Die Beiträge behandeln vier Aspekte, die zusammengenommen, wie ich hoffe, die Aufgaben und Fragestellungen des Musikunterrichts in der Grundschule umreißen:
- Der Unterricht von den Kindern aus; von dem, was sie mitbringen, was sie können und wollen, wie sie sich in das System Schule einfügen,
- die Wünsche und Erwartungen von Musiklehrern der weiterführenden Schulen,
- Überlegungen zu und Einsichten in die Bedingungen und Möglichkeiten des Musiklernens,
- die kritische Erörterung der „von oben“ (von der Schulpolitik und Erziehungswissenschaft) formulierten Ziele, Standards, Organisationsformen.
Als glücklich erweist sich, dass sich als Autorinnen und Autoren Hochschullehrer, Forscher und Lehrer zu dem Versuch des Themenheftes zusammengefunden haben.
Für mich sind es drei Fragen, die eine Didaktik des Musikunterrichts in der Grundschule bearbeiten sollte:
- Wie ist ein sinnvoller Übergang vom frühkindlichen „Musiklernen“ und Musizieren zu einem geordneten Unterricht im Rahmen des „Systems Schule“ möglich?
- Wie kann die Forderung nach ernsthaft aufbauendem Musiklernen im Fächerverbund der Grundschule gelingen?
- Welche Art von Lehrerausbildung ist notwendig, um – über alle, möglicherweise ja notwendige, Verwissenschaftlichung der Ausbildung hinaus – Lehrerinnen und Lehrer für einen Unterricht und für die Zuwendung zu den Kindern zu gewinnen, die Voraussetzungen für eine angemessene und angenommene Musikalisierung anbieten?
Christoph Richter
DMP 34: Musikdidaktik für die Grundschule
Das Wort zum zweiten Quartal
- Christoph Richter
Theorie und Praxis – Kunst und Wissenschaft
Musikdidaktik für die Grundschule
- Meinhard Ansohn
Musikunterricht als gelebte Zeit - Richard Hortien & Alexis Kivi & Christoph Stange & Uve Urban
Wünsche der weiterführenden Schulenan den Musikunterricht in der Grundschule - Mechtild Fuchs
„Leidenschaftliche Musiker entwickeln sich nur aus leidenschaftlichen Fünfjährigen!“
Plädoyer für eine nachhaltige Musikpädagogik in der Grundschule - Sarah Hennessy
Music education in English primary schools: ‘the best of times … the worst of times’ - Wilfried Gruhn
Vom Lernen lernen
Grundlagen eines aufbauenden Musikunterrichts in der Grundschule
Freie Beiträge
- Dietrich Steincke
Kategorien des Verstehens beim Malen zu Musik
Ein Diskussionsbeitrag aus hermeneutischer Sicht
Serie: Aus Geschichte lernen?
- Manuela Widmer
Das Orff-Schulwerk – Elementare Musik- und Tanzpädagogik
Vertrocknete Wurzel oder sprudelnde Quelle für den breiten Bereich einer ästhetischen Erziehung in Schule und Freizeit heute?
- Christoph Richter