Liebe Leserinnen und Leser,
in den letzten Jahren haben viele junge Kolleginnen und Kollegen musikpädagogische Lehrstühle übernommen; die Generation derer, die in den 70er Jahren berufen worden waren und, das kann man wohl ohne Übertreibung sagen, das Feld der Musikpädagogik mit neuen Konzepten bestellt hatten, leben im Ruhestand. Meine Idee war es, in der hier vorgelegten Ausgabe von DMP möglichst viele der neuen Kolleginnen und Kollegen mit ihren Vorstellungen zu Wort kommen zu lassen; eine gute Gelegenheit hierfür ist die Antrittsvorlesung. Leider konnten wir diese Idee nur teilweise verwirklichen; deshalb erscheint das Hauptthema dieses Heftes „Musikdidaktik 2005“ ein wenig zu vollmundig: Es sind nur zwei Antrittsvorlesungen geworden, jene von Christine Stöger, die an die Musikhochschule Köln berufen wurde, und die von Christopher Wallbaum, der seit einiger Zeit die wieder errichtete Schulmusikabteilung der Musikhochschule in Leipzig betreut.
Christopher Wallbaum stellt sein Konzept einer „relationalen Schulmusik“ vor. Sie fasst er in drei Thesen zusammen: - Musik ist eine Praxis aus Wahrnehmungsvollzügen und Kommunikation zwischen Menschen, in der es darum geht, möglichst erfüllte Zeit mit Attraktionen u. a. für das Ohr zu haben. - In der Schule sollen Menschen verschiedene solcher Praxen so erfahren, dass sie die ästhetische Art der Weltzuwendung in ihre zukünftige Lebensweise hereinnehmen. - Schulmusik ist die Kunst, konkrete Lehr-Lerngruppen in der Schule erstens zun verschiedenen erfüllten musikalischen Praxen anzuregen, die zweitens nach Möglichkeit typische Merkmale gesellschaftlicher Musikkulturen nachvollziehen und bewusst machen.
In ihrer Antrittsvorlesung behandelt Christine Stöger vier Ebenen einer „Planung des Ungewissen“: die Verständigung der Menschen „in pädagogischen Kontexten“, unterschiedliche Ebenen des Ungewissen, wie etwa die Deutungsoffenheit der Kunst, der eigenen Identität und des Verstehens von Kindheit und Jugend. Sie zeigt das Ungewisse ferner in der Begegnung des Anderen auf, an der „Unendlichkeit des Wissens und der Endlichkeit der Erfahrungen“. Im zweiten Teil stellt sie Anregungen zur „Gestaltung des Ungewissen im Unterricht“ zusammen: als offene Lernprozesse, als Umgang mit Nähe und Distanz, als Umgang implizitem Wissen. Der Text mündet in die Andeutung einiger Konsequenzen, die sich aus der Thematisierung des Ungewissen ergeben.
Gunther Diehl legt ein Konzept für den Musikunterricht vor, das antizyklisch zur gegenwärtigen Bildungspolitik agiert. In einer vierfachen Selbstbestimmung entwickelt er Grundhaltungen als Reaktionen auf Verhaltens- und Lebensweisen, denen Jugendliche heute ausgesetzt sind und an denen sie partizipieren: die Einflüsse der „elektronischen Informations- und Kommunikationstechnologien“, die „multikulturell geprägte gesellschaftliche Realität“, die „Diktatur der Geschwindigkeit“ und das Versprechen „allgemeiner Verbesserung und gesteigerter Bequemlichkeit“ Die dagegen gesetzten Haltungen umschreibt der Autor mit den Begriffen Transparenz, Alterität, Spiel, Balancierung, Inszenieren/Kontextualisieren.
Der Beitrag von Christoph Stange widmet sich dem Versuch, zwei unterschiedliche oder sogar kontroverse didaktische Konzepte in der Unterrichtspraxis miteinander zu verbinden: das Konzept „des Erwerbs musikalisch-praktischer Fähigkeiten“ und jenes der „ästhetischen Erfahrung“.
Um besondere Einfälle ist Clemens Kühn nie verlegen. In der Serie „Alte und neue Bekanntschaft mit Musik“ baut er aus unscheinbaren musiktheoretischen Übungen Schritt für Schritt ein berühmtes Musikstück zusammen, das hier nicht verraten werden soll.
Der zweite thematische Teil dieser Ausgabe behandelt Beiträge zur musikpädagogischen Forschung. Anna Ullrich legt in ihrem Beitrag eine Untersuchung über den Musikgeschmack indischer Jugendlicher vor, die sie während eines Studienaufenthaltes in Chandigarh/Nordindien durchführen konnte. Sie wollte in Erfahrung bringen, welche musikalischen Vorlieben und welche Urteile über verschiedene Musik indische Jugendliche haben. Dazu ermittelte sie zunächst das soziale und kulturelle Umfeld der Probanden, ihre musikalische Vorbildung und Hörgewohnheiten. Die sehr sorgfältig durchgeführte Untersuchung schließt Aspekte ein wie Bekanntheitsgrad, Geschlechtereffekt, Tempoeffekt, Vergältnis zu Vokalmusik und andere. Das Ergebnis zeigt ähnliche Musikvorlieben wie bei Untersuchungen westeuropäischer und amerikanischer Jugendlicher.
Gunter Kreutz und Laura Schork haben in einer Pilotstudie das berufliche und institutionelle Umfeld und außerdem pädagogische wie methodische Erfahrungen der Lehrerinnen und Lehrer im Bereich der musikalischen Früherziehung untersucht. Die Untersuchungsaspekte betreffen die musikalische Ausbildung und Erfahrung, die Unterrichtsorte, Gruppengrößen und die Dauer des Unterrichts, die Unterrichtsvorbereitung und die Lehrmaterialien, das Liedgut.
In der Serie „Aus Geschichte lernen?“ stellt Michaela Schwarzbauer Wolfgang Roschers Konzept der „Polyästhetischen Erziehung“ vor, das dieser in seinen Salzburger Lehrjahren zur so genannten „Integrativen Musikerziehung“ umgewandelt hat.
Christoph Richter
DMP 26: Musikdidaktik 2005 – Musikpädagogische Forschung
Das Wort zum zweiten Quartal
- Thomas Ott
Is this the rhythm?
Musikdidaktik 2005
- Christopher Wallbaum
Relationale Schulmusik – eine eigene musikalische Praxis und Kunst - Christine Stöger
Planungen des Ungewissen. Aktuelle Herausforderungen für die Musikpädagogik? - Gunther Diehl
Zukunftsfähig heißt widerständig – Eine womöglich unterschätzte Perspektive in musikdidaktischem Selbstverständnis - Christoph Stange
Zum Verhältnis des Erwerbs musikalisch-praktischer Fähigkeiten und ästhetischer Erfahrung
Serie: Alte und neue Erfahrungen mit Musik
- Clemens Kühn
Das Unerhörte erleben
Musikpädagogische Forschung
- Anna Ullrich
„Das klingt, als würde da jemand weinen!“ – Zu den musikalischen Vorlieben indischer Jugendlicher - Gunter Kreutz & Laura Schork
Musikalische Früherziehung aus Sicht von Lehrkräften
Ergebnisse einer Pilot-Studie
Serie: Aus Geschichte lernen?
- Michaela Schwarzbauer
Polyästhetische Erziehung
- Thomas Ott