Liebe Leser und Leserinnen,
Hauptthema der 18. Ausgabe von DISKUSSION MUSIKPADAGOGIK ist die Frage nach der didaktischen Bedeutung und nach den Vermittlungsmöglichkeiten der Oper, allgemeiner gesagt: des Musiktheaters. Damit erweist sich diese Ausgabe als die ältere und, was die Anzahl der Beiträge zu diesem Thema betrifft, als die fülligere Schwester des früheren Heftes zum Musical (Heft 5/ 2000). Als Geschwister weisen sie Gemeinsamkeiten auf. Diese zeigen sich insbesondere in den Beiträgen, die sich mit didaktischen Fragen und Anregungen beschäftigen (Hortien, Burgaller), aber auch in jenen, die Überlegungen anstellen zu Bedeutung der musiktheatralischen Künste für die zuschauenden, zuhörenden oder auch sich aktiv beteiligenden Menschen.
Die größere Menge der Beiträge zu diesem Thema erklärt sich daraus, dass im Verlauf der Vorbereitung immer mehr Aspekte und damit auch Texte zusammenkamen, die, wie ich
hoffe, den Kreis um diese sowohl schwierige als auch außerordentlich anregende Kunstform immer weiter schlug. Oper und andere Formen des Musiktheaters haben den Menschen über sich selbst, über ihre eigenes wie auch über früheres und fremdes Leben viel zu sagen; und umgekehrt bieten sie sich als Ausdrucksmöglichkeiten von Gefühlen, Situationen, Geschicken‚ Geschichten, Lebensgestaltungen an. Eine Besonderheit dieser Kunstformen besteht im Wechsel wie in der Gleichzeitigkeit von Nähe oder Unmittelbarkeit des Geschehens und Erlebens und — auf der anderen Seite — der Distanz (der Bühne und der Geschichten), aus welcher Identifikation und Betroffenheit umso stärkere Wirkung auslösen können. Das wussten schon die griechischen Tragödiendichter und ihr dramaturgischer Interpret Aristoteles.
Begonnen hatte die Zusammenstellung dieses Heftthemas mit dem musikpädagogischen Tag in der Deutschen Oper Berlin im Januar 2001, anlässlich der Verdi-Gedenkwochen. Damals hatten die Intendanzen, die Dramaturgen und die musikpädagogischen Beauftragten der drei Berliner Opernhäuser einen bunten Strauß von Vorträgen, Workshops, Diskussionen
zusammengestellt. In unserer Ausgabe stehen hierfür die Beiträge von Rainer 0. Brinkmann und Anne-Katrin Ostrop. Rainer Brinkmann stellt das — nach Anregungen von Scheller‚ Nebuth und Stroh im Wesentlichen von ihm selbst entwickelte und verfeinerte Konzept der „Szenische(n) Interpretation" vor — sowohl seine Geschichte als auch sein systematisch angelegtes Konzept und vor allem seine praktischen Möglichkeiten. Diesem Grundsatzbeitrag steht der Bericht von AnneKatrin Ostrop zur Seite, in welchem sie detailreich darstellt, wie in der Lehrerfortbildung persönliche Beziehungen zur Oper und methodische Möglichkeiten zu ihrer szenischen Ausarbeitung aufgebaut werden können.
Beide haben inzwischen wichtige Funktionen in der Zusammenarbeit zwischen Opernhäusern und der Schule übernommen, der eine an der Staatsoper, die andere an der Komischen Oper in Berlin.
Horst Rumpf, dessen Beitrag mit der Überschrift „Wilde Geschichten — Wie Opern zu verstehen geben können" Neugier weckt, bildet die Ouvertüre zum Heftthema. Rumpf, als Pädagoge von Büchern wie „Die übergangene Sinnlichkeit” und „Unterricht und Identität” bekannt geworden, ist ein Opern Fan; mir scheint, er betritt keine Stadt, in der er nicht in die Oper gehen kann. Die „Geschichten”, die er sich dort in musikalisierter Gestalt anhört, sind wild, weil sie „denkbar weit vom gewohnten Alltag der hier Versammelten entfernt sind. Außerdem aber, weil es sich da durchweg um Geschehnisse handelt, in die gewöhnlich jedenfalls kein Zuschauer gern real selbst verwickelt wäre. Zumeist handelt es sich um recht schräge Geschehnisse, um Verwicklungen und Konflikte, die die Akteure der Handlungen überwältigen und überfordern. ” Die „Turbulenzen"‚ in welche die wilden Geschichten der Opern die Menschen hineinziehen‚ sind zugleich das Reinigende und Unterhaltende, und damit auch das Erziehliche‚ das die Oper — als didaktische Einrichtung — anbietet.
Mein eigener Versuch, das Musiktheater seinen Zuhörern und Zuschauern als unterhaltende, als zur Identifikation anregende und als kathartische wirkende Dialogpartner anzubieten, geht — ähnlich wie Rumpf Ansatz — von den Geschichten aus, die dem Menschen begegnen, und wendet sich dann einzelnen Aspekten zu (Singen, das Unterhaltende, Inszenierung, Oper als Gesamtkunstwerk), von denen aus didaktische Überlegungen ihren Weg nehmen können.
Die Werke oder Prozesse des zeitgenössischen und des experimentellen Musiktheaters nehmen zwar, als eine Art ars reservata, einen exklusiven Platz im musiktheatralischen Gelände ein; sie bieten aber darüber hinaus Anregungen für Interpretationen und Inszenierungen im traditionellen Musiktheater an. Matthias Rebstock entwirft in seinem Beitrag ein Analyse-Instrument, mit dessen Hilfe die Vielfalt der Handlungsaspekte und die Sparten- wie auch kunstübergreifenden Bezüge erläutert und interpretiert werden können. Dieses Instrumentarium verdeutlicht er an Mauricio Kagels „Sur Scene”.
Alexia Benthaus hat in der Universität Dortmund mit einer Arbeit zum Thema „Oper im Unterricht — Zwischen Anspruch und Realität. Möglichkeiten und Grenzen eines multidimensionalen Phänomens” promoviert. In dieser Arbeit stellt sie u. a. einen minutiösen Bericht und eine Deutung der operndidaktischen Konzepte vor. Aus der großen Materialfülle hat die Autorin uns eine umfangreiche kommentierte Bibliographie zur Operndidaktik zusammengestellt, die aufgrund ihres Umfangs zum kostenlosen Download auf der Verlags-Homepage zur Verfügung steht. Im Magazin veröffentlichen wir außerdem eine Rezension dieser Dissertation (besorgt von Markus Brenk).
Die vorgelegte Ausgabe von DMP enthält ferner zwei Beiträge zur Theorie der Musikpädagogik. Gunther Diehl macht auf einige verloren gegangene Qualitäten des Musikunterrichts aufmerksam: gegenseitige Rücksichtnahme im sozialen Miteinander; Konzentration, Grundfertigkeiten wie Sich-Artikulieren, Zuhören, Lesen, Schreiben. Er gliedert seine Überlegungen in die Abschnitte „Beobachtungen”, Anfragen”, „Handeln”, „Nach-Denken”, und entwirft den Rahmen für ein Konzept (mit den Aspekten — „Nähe und Distanz", „polykulturelle Orientierung”, „Poetisierung und Alphabetisierung”, „Neue Medien" und „Revitalisierung älterer Konzepte"). Mir scheint, hier ist ein Beitrag gelungen, der mit einem Blick zurück den Unterricht nach vorne bringen kann.
Wilfried Gruhn zieht in seinem Beitrag „Neurodidaktik” bedenkenswerte Konsequenzen aus neueren neurologischen und neuropsychologischen Einsichten, vor allem solche, die ernsthafte Bedenken gegenüber der pädagogischen Wunderwaffe eines möglichst frühen Lernanfangs zusammentragen.
Als ein weiteres Beispiel für die Musikpädagogik aus anderen Ländern macht Alexandra Kertz-Welzel (Seattle) mit einem Konzept von Benett Reimer bekannt, das sich darum bemüht, auch in den USA so etwas wie einen „allgemeinbildenden” Musikunterricht einzurichten oder wenigstens ihn zu propagieren. Dieser Beitrag stellt die prinzipiellen Unterschiede zwischen dem amerikanischen und dem deutschen Musikunterricht in wünschenswerter Deutlichkeit heraus.
Christoph Richter
DMP 18: Beiträge zur Didaktik der Oper und des Musiktheaters
Beiträge zur Didaktik der Oper und des Musiktheaters
- Horst Rumpf
Wilde Geschichten
Wie Opern zu verstehen geben können - Christoph Richter
Anmerkungen zur Vermittlungsaufgabe des Musiktheaters - Rainer O. Brinkmann
Szenische Interpretation von Musiktheater - Anne-Kathrin Ostrin
Oper bewegt!
Ein Bericht aus der Lehrerfortbildung - Matthias Rebstock
Analyse im Muskthater
Diskussion interdisziplinärer Ansätze
Theorie der Musikpädagogik
- Gunther Diehl
"Das (eher) Beiläufige als das (doch) Wesentliche verhandeln"
Beobachtungen und Thesen zu einem Phänomen von auch musikpädagogischer Relevanz - Wilfried Gruhn
Neurodidaktik und die Lust am frühen Lernen
Musikpädagogik in anderen Ländern
- Alexandra Kertz-Welzel
Towards Europa
Benett Reimers "Phliosophy of Music Education" und der amerikanische Traum vom "allgemeinbildenden" Musikunterricht
- Horst Rumpf