Liebe Leser:innen,
das Wort Diskurs scheint heute mehr denn je in aller Munde. Der gesellschaftliche Diskurs, heißt es, sei zunehmend polarisiert oder verschiebe sich. Politische Akteur:innen würden Diskurse führen oder sich ihnen verweigern. Manche Themen seien im medialen Diskurs überrepräsentiert, andere würden unterdrückt. Öffentliche Meinung, politische Debattenkultur oder mediale Repräsentation – der Diskursbegriff wird auf Räume bezogen, in denen Einstellungen ausgeprägt, Positionen verhandelt, Themen gesetzt werden.
Auch in der Musikpädagogik ist seit Längerem vom Diskurs die Rede. Nicht selten wird vom musikpädagogischen Diskurs als Ganzem gesprochen, gelegentlich auch vom musikpädagogischen Inklusionsdiskurs oder dem Diskurs der interkulturellen Musikpädagogik. Parallel dazu hat sich in der wissenschaftlichen Musikpädagogik seit jüngerer Zeit ein neues Forschungsparadigma ausgebildet: die musikpädagogische Diskursforschung. Unter diesem Paradigma werden Wissensordnungen analysiert, die das Denken, Sprechen, Schreiben und Handeln im musikpädagogischen Feld prägen. Unbewusste Vorstellungen, unhinterfragte Redeweisen, aber auch umkämpfte Deutungshoheiten im musikpädagogischen Diskurs werden zum Untersuchungsgegenstand, ebenso die damit verbundenen Machtwirkungen und die darin eingebundenen Subjekte. Diskursforschung kann verborgene Einflüsse auf musikpädagogische Normen und musikunterrichtliche Praktiken offenlegen und so einen besonderen Beitrag zur Reflexion und Kritik in unserem Fach leisten.
Das vorliegende Themenheft möchte Einsichten in die noch junge Diskursforschung in der Musikpädagogik vermitteln. Gestaltet wurde es von Mitgliedern einer gleichnamigen Arbeitsgruppe, die sich seit einigen Jahren über theoretische Grundlagen, methodische Aspekte und konkrete Forschungsprojekte der Diskursforschung und Diskursanalyse austauschen. Sieben Beiträge zum Thema bewegen sich von einem einführenden Überblick über wissenschaftliche Anschlüsse und grundlegende diskurstheoretische Fragen bis hin zu forschungspraktischen Aspekten.
Der thematische Teil des Hefts wird durch einen Basisbeitrag von Tobias Hömberg und Christian Rolle eröffnet. Nach einem kurzen Schlaglicht auf die Tradition der englischsprachigen musikpädagogischen Diskursforschung werden zentrale diskurstheoretische Grundannahmen dargelegt. Diese Einführung ermöglicht es im Weiteren, Forschungsfelder und Erkenntnisinteressen sowie Theorieansätze und Forschungsmethoden der deutschsprachigen musikpädagogischen Diskursforschung zu überblicken. Als Beispiele werden konkrete Forschungsarbeiten der zurückliegenden zehn Jahre und der Gegenwart angeführt.
Die folgenden zwei Beiträge loten Anschlüsse von (musikpädagogischer) Diskursforschung an andere Forschungsbereiche und ‑zugänge aus. Christiana Voss betrachtet das Verhältnis von Historischer Musikpädagogik und musikpädagogischer Diskursforschung. Sie erkennt Differenzen sowie Berührungspunkte und Schnittflächen und empfiehlt einen Dialog beider Bereiche über gemeinsame Forschungsinteressen und Untersuchungsgegenstände. Matthias Krebs bringt Diskursforschung und Praxisforschung zusammen. Er beschreibt theoretische Spannungen und Grenzbereiche zwischen diskursanalytischen und praxeologischen Ansätzen, deutet aber insbesondere an, wie sich musikbezogene kulturelle Ordnungen als ‚Praxis-/Diskursformationen‘ erforschen lassen.
In den beiden nächsten Beiträgen werden grundlegende Fragen zu diskurstheoretischen Aspekten erörtert, die sich auch für Diskursforschung in der Musikpädagogik stellen. Annika Ueffing diskutiert Theorien von Macht in der musikpädagogischen Forschung. Dabei stellt sie heraus, dass Macht zwar auch diskurstheoretisch als repressiv, vor allem aber als produktiv zu verstehen ist, und rät zu einer Reflexion und Kombination verschiedener Machttheorien in Forschungsprojekten. Tobias Hömberg thematisiert die diskurstheoretischen Auffassungen von Subjekten in diskursiven Strukturen und greift die strittige Frage der Autorschaft auf. Ausgehend von den Überlegungen Michel Foucaults und weiterführenden Ansätzen zeigt er verschiedene Perspektiven auf denkende, sprechende und schreibende Subjekte auf.
Die Beiträge einer letzten Abteilung behandeln forschungspraktische Aspekte. Anne Günster wendet sich dem Schreiben in der Diskursforschung zu, deren Prozesshaftigkeit die Entwicklung einer kritischen Haltung ermöglicht und einfordert. Sie betrachtet das Schreiben nicht allein als wissenschaftliches Werkzeug und Erkenntnisinstrument, sondern speziell als Medium der diskursiven Reflexion. Carolina Weyh gewährt schließlich Einblicke in eine mögliche Umsetzung diskursanalytischer Forschungsvorhaben, die Ansätze der Wissenssoziologischen Diskursanalyse und der Grounded Theory Methodology verbindet. Dazu stellt sie eine selbstentwickelte Analyseheuristik vor, die es erlaubt, verschiedene Elemente eines untersuchten Spezialdiskurses zueinander in Beziehung zu setzen.
Ergänzend zum thematischen Teil enthält dieses Heft einen freien Beitrag von Christine Löbbert. Darin stellt sie die kürzlich von ihr vorgelegte Dissertation zu Musikschulkultur und Inklusion vor. Auf empirischer Grundlage konnte Löbbert zwei Typen musikschulischer Schulkulturen rekonstruieren, innerhalb derer spezifische Inklusions- und Exklusionsmechanismen praktiziert werden. Das Magazin dieser Ausgabe bietet wie gewohnt Rezensionen zu weiteren, in den zurückliegenden Jahren veröffentlichten musikpädagogischen Schriften.
Tobias Hömberg (als Gastmitherausgeber dieses Heftes),
Rebekka Hüttmann, Oliver Krämer und Annette Ziegenmeyer
DMP 105: Diskursforschung in der Musikpädagogik
Nachruf
- Wolfgang Martin Stroh
Nachruf auf Ingo Scheller (1938–2024)
Diskursforschung in der Musikpädagogik
-
Tobias Hömberg & Christian Rolle
Diskursforschung in der Musikpädagogik Theorien, Methoden, Forschungsarbeiten –
ein Überblick -
Christiana Voss
Historische Musikpädagogik und musikpädagogische Diskursforschung
Zum Verhältnis zweier verwandter Forschungsbereiche -
Matthias Krebs
Zwischen Diskurs und Praxis
Ein integrativer Ansatz zur kritisch-reflexiven Analyse kultureller Ordnungen in der Musikpädagogik -
Annika Ueffing
Synkretismus von Machttheorien
Perspektivierungen und Potenziale für die musikpädagogische Diskursforschung -
Tobias Hömberg
Subjekte, Strukturen und die Frage der Autorschaft
Wer denkt, spricht, schreibt im musikpädagogischen Diskurs? -
Anne Günster
‚Sich Einschreiben‘ in eine forschend-kritische Haltung
Überlegungen zum wissenschaftlichen Schreiben im Diskursforschungsprozess -
Carolina Weyh
Das Spezialdiskursanalytische Kodierparadigma als Analyseheuristik
Ein Methodeninstrument mit Bezügen zur Wissenssoziologischen Diskursanalyse und Grounded Theory Methodology
Freie Beiträge
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Christine Löbbert
Musikschule zwischen Tradition und Vision
Eine empirische Studie zu Musikschulkultur und Inklusion
- Wolfgang Martin Stroh